Die Schatten des Mars
die Beteiligten einen Vorteil daraus ziehen konnten. Der Dichter besaß mittlerweile genügend Sonnensteine, und die Blumen verwelkten außerhalb des Gewächshauses innerhalb weniger Tage.
Wenn sich die Gäste dann verabschiedet hatten, sah ihnen der traurige Dichter nach, bis der Wind ihre Spuren verweht hatte – ein Bild, das für ihn Symbolgehalt hatte. Das Sandmeer tilgte die Spuren wie das Vergessen ...
Der Dichter hatte Port Marineris schon vor Jahren verlassen, als ihm klargeworden war, wie sehr die Ansiedlung bereits einer irdischen Stadt ähnelte. Natürlich wußte er um die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung, aber das bedeutete keineswegs, daß er daran teilhaben wollte. Also hatte er der Erschließungsgesellschaft ein Stück Land abgekauft und war mit dem wenigen, das er besaß, hinausgezogen in die Einsamkeit einer Landschaft, die nur dem Unkundigen karg und lebensfeindlich erschien. Gewiß, es war kalt, und manchmal hielt ihn der Sturm tagelang in seinen vier Wänden gefangen, aber daran hatte sich der traurige Dichter längst gewöhnt. Dafür entschädigten ihn die reine Luft, die Stimmen des Windes und ein Nachthimmel, an dem die Sterne zum Greifen nah schienen. An diesem Himmel war die Erde nicht mehr als ein bläulich schimmernder Lichtpunkt, Stern unter Sternen.
Die Erde ...
Es war seltsam. Als er noch dort gelebt hatte, war er von Orten wie diesem fasziniert gewesen, und jetzt, da er sein Ziel erreicht hatte, schrieb er Geschichten über die alte Erde. Dennoch hatte der Dichter nie das Bedürfnis empfunden zurückzukehren, und die spärlichen Nachrichten, die ihn in seiner Abgeschiedenheit erreichten, waren kaum dazu angetan, seine damalige Entscheidung zu bedauern. Der Krieg bestimmte noch immer die Schlagzeilen, und er würde es weiter tun, bis es eines Tages keine Schlagzeilen mehr gab.
Aber der Krieg war nicht der Grund, weshalb er in letzter Zeit so oft an die Erde dachte. Die Gedanken des Dichters galten einer Welt, die längst nicht mehr existierte. Er rechnete nicht damit, noch einmal etwas von jenen zu hören, die mit ihm zusammen jung gewesen waren. Wahrscheinlich waren die meisten längst tot. Allerdings hatte er nie den Versuch unternommen, etwas über ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen. Nicht, weil er die Gewißheit scheute, sondern weil er sie so in Erinnerung behalten wollte, wie sie gewesen waren. Damals. Die Bilder, die er in seinem Herzen trug, waren ihm wichtiger als etwaige Lebenszeichen arthritischer Pensionäre, die vorgaben, die gleiche Schule wie er besucht zu haben. Das Eingeständnis, sie tatsächlich zu kennen, würde das Ende einer Illusion bedeuten, die ihm mit den Jahren immer wichtiger geworden war: Daß die Zeit hier keine Macht über ihn hatte.
Die Geschichten, die er schrieb, waren Teil dieser Illusion: Sie führten den Leser entweder zurück in das vorige Jahrhundert oder in eine Zeit, die nicht genauer definiert war. Letzteres kam seinen Intentionen am nächsten, war er doch besessen von der Idee, eine Welt zu erschaffen, der die Realität nichts anzuhaben vermochte. »Die Lieder einer alten Stadt«, sein erster und bislang einziger Erfolg als Schriftsteller, handelten von solch einer fiktiven Welt, in die er seine Träume und Phantasien projiziert hatte. Ähnliches war ihm seither nie wieder gelungen, und das war einer der Gründe gewesen, die ihn letztlich dazu bewogen hatten, der Erde den Rücken zu kehren.
Nun lebte er schon seit einer Reihe von Jahren, über deren genaue Zahl er sich Rechenschaft abzulegen hütete, am Ufer des Sandmeeres und schrieb Geschichten über eine verlorene Welt. Die meisten dieser Geschichten handelten – wie er sich schon bald eingestehen mußte – von ihm selbst und von Personen, die den Gefährten seiner Jugend auffallend ähnelten. Der traurige Dichter hatte lange über dieses Phänomen nachgedacht, bis ihm klargeworden war, daß es eine Art Flucht war – zurück in eine Zeit, in der ihm noch alle Wege offengestanden hatten. Hinter all den phantastischen Abenteuern und Liebesgeschichten, die er seine Christophs, Friedrichs und Roberts erleben ließ, verbarg sich das quälende Verlangen, Geschehenes ungeschehen machen zu können, die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits der deprimierenden Zwänge des Unabänderlichen. Im Grunde stellten seine fiktiven Erlebnisse nichts anderes als den Versuch dar, dem Strom der Zeit zu entfliehen.
Die Zeit war sein Feind. In seiner Jugend hatte er sich von ihr täuschen lassen,
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