Die Schatten des Mars
Gestalten der internationalen Ballettszene im Raum zwischen den bewohnten Welten« im Sinne einer »neuen Phase der Exilkunst in der Tradition der legendären Balletts R u sses«, was in der Folge mit dazu führte, daß die allgemeine Skepsis gespannter Erwartung Platz machte.
Am Abend des 4. Oktober 2063 war es dann endlich soweit. Drei Tage zuvor hatte die »Queen of Hearts« den Erdorbit verlassen und war mit achthundert Passagieren an Bord in Richtung Mars aufgebrochen. Die meisten davon waren gutbetuchte Senioren, die ihren Lebensabend an einem Ort beschließen wollten, der neben der erwünschten Exklusivität auch ein Höchstmaß an Sicherheit bot. Auf dem Mars waren Kriminalität und Terror Fremdworte.
Für die Mehrzahl der Gäste, die sich an diesem denkwürdigen Abend im Festsaal des Luxusschiffes versammelt hatten, war die Romanowa eine lebende Legende, und so war die Spannung förmlich mit Händen zu greifen, als die Lichter im Saal allmählich erloschen und die ersten Takte von Prokofjews »Romeo und Julia« erklangen. Es gab natürlich kein wirkliches Orchester an Bord, aber die holographische Projektion des für Zuschauer sichtbaren Bereichs eines Orchestergrabens wirkte ebenso realistisch wie die vermeintliche Tiefe der Bühne, die in Wirklichkeit kaum mehr als fünf Meter betrug.
Die Scheinwerfer flammten auf, und da stand sie tatsächlich, die große Romanowa, und es war, als sei die Zeit stehengeblieben.
Und genau so ungerührt und stolz stand sie auch zwei Stunden später an fast genau der gleichen Stelle, als sie sich Hand in Hand mit ihrem Tanzpartner verbeugte und die Huldigungen des Publikums entgegennahm, das sich von den Plätzen erhoben hatte und donnernd applaudierte.
»Die Wiedergeburt einer Göttin« titelte die »New York Times« tags darauf, nachdem sich die Redakteure die Videoaufzeichnung des Ereignisses angesehen hatten, die die »Queen of Hearts« noch in der Nacht zur Erde gefunkt hatte.
Ähnlich euphorisch reagierten die anderen Zeitungen und Netzwerke, und selbst David Cronenbaum, scharfzüngiger Chefkritiker der »Post«, mußte einräumen, »daß man zukünftig wohl eine Menge Geld und Zeit aufwenden müsse, wenn man weißes Ballett in Vollendung erleben wolle.« Allerdings konnte er sich dann doch die Bemerkung nicht verkneifen, »daß eine verminderte Schwerkraft Darbietungen dieses Schwierigkeitsgrades offenbar äußerst zuträglich« sei.
»Aphrodite und Eros zwischen den Sternen« schwelgten die »Petersburger Nachrichten«, und die deutsche Bild-Zeitung überforderte ihre Leserschaft mit der Schlagzeile »Pas de deux mit einer Göttin«.
Die Propagandasender des Shariats reagierten dagegen erwartungsgemäß mit Häme. »Eine Soldatenhure mit Blechfüßen und ein widerwärtiger Homosexueller zelebrieren den Totentanz des dekadenten Westens«, kommentierte die »Stimme des Propheten« vor Bildern einer johlenden Menge, die großformatige Plakate mit Lenas Porträt verbrannte. Erst jetzt war sie wohl wirklich berühmt ...
Der gelungenen Premiere folgten Dutzende umjubelter Auftritte, die zwar nach wie vor die Fachwelt begeisterten, naturgemäß aber kaum noch das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit fanden.
Dennoch war Lena glücklich. Sie durfte wieder tanzen, Fabian war ein großartiger Partner, mit dem sie sich auch außerhalb der Bühne glänzend verstand, und das Publikum lag ihnen zu Füßen. Natürlich wußte Lena auch, daß es ein Glück auf Zeit war. Sie ging mittlerweile auf die Siebzig zu. Die verlorenen Jahre sah man ihr zwar nicht an, aber sie merkte selbst, wie schwer ihr Atem ging, wenn sie sich anstrengen mußte. Manchmal wachte sie nachts auf und lauschte ängstlich dem Schlag ihres Herzens, der ihr überlaut und unregelmäßig erschien. Und sie sah die Schatten näherrücken, geduldig und unerbittlich wie Jäger, die sich ihrer Beute sicher waren. Aber noch sollte nicht sie selbst das Ziel sein …
Im Juni 65 brach Fabian Fahrenburg auf der Bühne zusammen und mußte auf die Krankenstation gebracht werden. Er war krank, seit langem schon, aber nur Lena hatte etwas von der Infektion gewußt. Er starb zwei Tage bevor die »Lady Genevra«, das Schwesterschiff der »Queen of Hearts«, in den Marsorbit einschwenkte.
Zusammen mit dem Kapitän und dem Schiffsgeistlichen sah Lena der silbernen Kapsel nach, in der Fabian den Sternen entgegenschwebte. Sie dachte, daß ihm dieser letzte Auftritt sicher gefallen hätte. Wahrscheinlich hätte er einen
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