Die Schatten des Mars
Toast auf sich selbst ausgebracht und dann das Glas hinter sich geworfen, wie er es von ihr gelernt hatte. Deutsche waren versessen auf große Gesten – erst recht, wenn es ums Sterben ging. Fabian Rudolf Fahrenburg war nur 38 Jahre alt geworden.
Lena lehnte das Angebot der Gesellschaft ab, ihr einen neuen Partner zu vermitteln. Es war vorbei. Sie schloß sich in ihrer Kabine ein, bis das Schiff am Raumhafen von Port Marineris aufsetzte und sie mit den anderen Passagieren von Bord gehen konnte.
Lena besaß genügend Kredit, um eines der eben erst fertiggestellten Apartments in unmittelbarer Nähe des Grüngürtels anmieten zu können. Sie ließ sich einen Allnet-Zugang schalten und schickte ihrer Freundin Miriam eine Nachricht, in der sie ihr mitteilte, daß sie vorerst nicht zur Erde zurückkehren würde. Andere Adressaten fielen ihr nicht ein.
Die darauffolgenden Tage verbrachte sie damit, die Umgegend der Stadt zu erkunden. Manchmal lief sie so dicht an die äußeren Energieschirme heran, daß sie ein Kribbeln auf der Haut verspürte. Sie beobachtete die schweren Clarith-Transporter, die träge wie Elefanten über die unbefestigten Straßen schaukelten, und fragte sich, ob es da draußen wirklich so kalt und unwirtlich war, wie die Broschüren behaupteten, die am Raumhafen an alle Neuankömmlinge verteilt wurden. Aus Gründen, über die sie sich selbst nicht im klaren war, glaubte sie nicht daran.
Abends blieb sie lange wach und schaute durch das Dachfenster ihres Apartments hinauf zu den Sternen. Ihr helles klares Licht nahm ihr ein wenig von ihrer Furcht vor der Nacht. Die Schatten kamen näher, auch wenn Lena ihre Anwesenheit eher spürte, als daß sie sie bewußt wahrnahm.
Ihre Träume waren unruhig. Bilder aus ihrer Kindheit mischten sich mit anderen, deren Grausamkeit sie erschreckte. Manchmal träumte sie von ihrem Vater. Er hing mit gefesselten Händen an einem Balken und starrte auf etwas, das sich neben ihm an einem Strick drehte wie ein Stück ausgeweidetes Wild. Doch der blutige Klumpen Fleisch war kein Wildbret, sondern der gehäutete Torso eines Menschen ...
Wenn sie nach solchen Szenen schweißgebadet erwachte, empfand sie die Gegenwart der Schatten beinahe als tröstlich. Sie wollten ihr nicht wehtun, davon war sie mittlerweile überzeugt. Vielleicht suchten sie ihre Nähe nur, weil sie einsam waren. Einsam und traurig wie sie selbst ...
Ihre Stimmen waren leise und sanft wie das Raunen des Windes, und es dauerte lange, bis Lena sie zu verstehen lernte. Erst dann begriff sie, wer sie waren.
Sie waren geduldig und doch voller Hoffnung, keine Jäger, wie Lena zuerst vermutet hatte, sondern Getriebene, die auf etwas warteten, das allein sie ihnen geben konnte. Sie sprachen zu ihr, und Lena hörte ihnen zu, bis sie irgendwann erkannte, daß es Zeit war, ihrem Ruf zu folgen.
Niemand sah sie gehen, und als man Tage später ihr Verschwinden bemerkte, hatte der Wind ihre Spuren längst verweht.
Als Lena die Stadt verließ, war die Sonne schon seit Stunden untergegangen. Es war kühl außerhalb der schützenden Energiekuppel, aber nicht so kalt, wie sie befürchtet hatte. Sie trug nur ein dünnes weißes Kleid, so wie es sein mußte in dieser Nacht, und Tanzschuhe, durch die sie jede Unebenheit des Bodens spürte.
Sie wunderte sich über die Intensität dieser Wahrnehmung, bis ihr schließlich klarwurde, daß etwas mit ihren Beinprothesen nicht stimmen konnte. Das Ziehen unterhalb ihrer Kniegelenke, das sie zuletzt nur noch unbewußt wahrgenommen hatte, war verschwunden, das Summen der Servomotoren verstummt. Lena blieb stehen und strich vorsichtig über die Haut ihrer Unterschenkel. Sie fühlte sich warm und vollkommen natürlich an.
Das Gefühl war unbeschreiblich. Übermütig wie ein Kind sprang Lena auf einen der Felsblöcke abseits des Weges und genoß das perfekte Zusammenspiel von Nerven, Sehnen und Muskeln bei dieser Bewegung.
Es waren tatsächlich ihre Beine, so wie sie einst gewesen waren. Die Schatten hatten ihr nicht zuviel versprochen. Alles würde so sein, wie es sein mußte, in dieser Nacht.
Sie wandte sich um und sah zurück zur Stadt. Sie erschien ihr klein, beinahe verloren – eine winzige Insel des Lichtes inmitten der dunklen, ungeheuren Weite des steinernen Meeres. Sie ging weiter bergan, vorbei an gewaltigen Findlingsblöcken und Felstürmen, die sich wie riesige dunkle Finger in den sternklaren Nachthimmel erhoben. Schließlich erreichte sie den Kamm der
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