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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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sich Julius versetzt sah, wirkte vollkommen natürlich. Ein sanfter Wind rauschte in den Wipfeln der Bäume, Vögel zwitscherten, und ein Wildentenpärchen glitt gemächlich über die glitzernde Wasserfläche. Nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt stand ein Mann in Trainingsanzug und weißen Laufschuhen. Er schien die Enten zu beobachten, aber als die Kamera näherschwenkte, erkannte Julius, daß sein Blick keinem konkreten Ziel folgte. Der Mann stand vollkommen reglos und schien kaum etwas von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Er war etwa dreißig Jahre alt und hochgewachsen. Sein Gesicht wirkte blaß, aber vielleicht wurde dieser Eindruck auch durch die leicht vorstehenden Wangenknochen hervorgerufen, die seine Züge hager erscheinen ließen. Die Augen waren dunkel wie sein kurzgeschnittenes Haar, wirkten aber seltsam ausdruckslos.
    »Merkwürdig.« Der Professor hatte nicht laut gesprochen, dennoch fuhr Julius erschrocken zusammen. »Das ist das erste Mal, daß er seinen Spaziergang unterbricht.«
    Der Einwurf erinnerte Julius daran, daß der Mann im Trainingsanzug kein Wesen aus Fleisch und Blut war, sondern die Visualisierung einer künstlich geschaffenen Entität. Angesichts der Natürlichkeit der Szene war das nur schwer zu akzeptieren.
    Julius hörte Schritte, doch erst als eine Gestalt im weißen Arztkittel in seinem Blickfeld auftauchte, begriff er, daß es der Avatar des Professors war. Der virtuelle Dr. Prohaska trug eine Kollegmappe unter dem Arm und strebte mit raschen Schritten seiner Arbeitsstätte entgegen.
    »Guten Morgen!« rief er dem Mann im Trainingsanzug im Vorbeigehen zu. Der Angesprochene wandte sich ohne ein Zeichen der Überraschung um und winkte dem Arzt zu: »Guten Morgen, Dr. Prohaska. Wie immer in Eile!«
    Seine Stimme klang angenehm und enthielt genau jene Spur Amüsement, die der Situation angemessen war. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das auf die Entfernung sicherlich überzeugend wirkte, Julius aber aus irgendeinem Grund mißfiel. Später wurde ihm klar, was daran nicht gestimmt hatte: Es paßte nicht zu dem wachsamen Ausdruck in den Augen des dunkelhaarigen Mannes.
    »Leider«, erwiderte der Arzt mit einer resignierten Geste. »Wir sehen uns später!«
    Der Mann im Trainingsanzug sah ihm nach, bis er hinter einer Baumgruppe verschwunden war. Dann ging er zurück zum Weg und lief mit raschen, zielgerichteten Schritten in die entgegengesetzte Richtung.
    »Ich kann es immer noch nicht glauben«, murmelte Professor Prohaska, als sie ihre Ausrüstung abgelegt und wieder Platz genommen hatten. »Ich muß mir unbedingt die Aufzeichnung ansehen ...«
    »Und wenn er nun einen Grund hatte, dort stehen zu bleiben?« wandte Julius ein. »Vielleicht hat er irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
    »Es war kein äußerer Reiz«, beharrte der Ältere. »Sie haben doch sein Gesicht gesehen.«
    Julius zuckte mit den Achseln. Der Mann im Trainingsanzug hatte in der Tat nicht wie jemand ausgesehen, der etwas entdeckt hat. Eher wie ein Tagträumer.
    »Entschuldigen Sie, ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie Ihnen der Ausflug in Kevins Welt gefallen hat. Was halten Sie von unserem Schützling?«
    »Ich weiß nicht ... alles war so ... natürlich. Auf mich wirkte er völlig normal – wie ein Mensch eben. Gesagt hat er ja nicht viel.«
    »Kevin ist im Allgemeinen nicht sehr gesprächig«, erwiderte der Professor. »Dafür war das eben schon beinahe ein Temperamentsausbruch – dazu noch die Abweichung von seiner üblichen Route ...«
    »Und Sie können wirklich nicht herausfinden, weshalb er das getan hat?«
    »Das hängt in erster Linie davon ab, ob Kevin darüber sprechen möchte. Wenn nicht, dann müssen wir darüber nachdenken, wie viel uns die Information wert ist. Ich glaube nicht, daß es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt lohnt, ein Risiko einzugehen.«
    »Welches Risiko?«
    »Wir müßten in sein Bewußtsein eindringen ... eine Maßnahme, die nach Ansicht unserer Psychologen Notfällen vorbehalten bleiben sollte. Aber es lohnt sich nicht, über Dinge zu spekulieren, von denen wir beide nicht genug verstehen.« Der Professor lächelte zwar, aber der Tonfall seiner Stimme verriet Julius, daß weitere Fragen zu diesem Thema unerwünscht waren.
    Noch bevor er etwas erwidern konnte, überreichte ihm der kleine Mann ein Mappe, die er offensichtlich für ihn bereitgehalten hatte, und erklärte: »Das ist eine zugegebenermaßen stark vereinfachte Zusammenfassung des aktuellen

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