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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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tun.
    Angefangen hatte es mit einer Internet-Anzeige, auf die Julius eher zufällig gestoßen war: »Möchten Sie wissen, wie Ihre Schulfreunde heute aussehen?« Dahinter hatte sich jedoch kein kostenpflichtiger Suchdienst verborgen, sondern eine Softwarefirma, die 3D-Modelling-Programme vertrieb. Die Darstellungen auf der Website des Unternehmens waren so überzeugend gewesen, daß Julius sich eine Testversion der Software heruntergeladen hatte, um damit zu experimentieren. Das Programm bot dem Nutzer die Möglichkeit, Bilder oder Videoaufnahmen einer bestimmten Person einzuspielen und daraus einen Avatar, also eine dreidimensionale virtuelle Gestalt zu konstruieren, die dem Original – je nach Qualität des Ausgangsmaterials – mitunter verblüffend ähnelte. Das war im Grunde nichts Besonderes, ebenso wie der sogenannte Aging-Modus, mit dem man den Avatar um eine definierte Lebensspanne altern lassen oder verjüngen konnte. Dafür war die Qualität der Beispiel-Animationen um so beeindruckender, die so lebensecht wirkten wie Menschen aus Fleisch und Blut.
    Einer derartigen Versuchung konnte Julius nicht widerstehen. Kaum hatte er die Bilder und das einzige Video, das er von Julia besaß, eingegeben, entstand eine dreidimensionale Porträtaufnahme auf dem Monitor, die dem Mädchen so täuschend ähnlich sah, daß er den Blick minutenlang nicht abwenden konnte, während die Erinnerungen auf ihn einstürzten.
    Schließlich riß ihn eine affektiert klingende Mädchenstimme aus seiner Erstarrung: »Hallo, Julius!« Er fuhr zusammen, als er seinen Namen hörte. »Wie alt möchtest du mich haben?«
    Die Stimme besaß keinerlei Ähnlichkeit mit der Julias, obwohl sich die Lippen des Mädchens auf dem Bildschirm synchron zu den Worten bewegten. Rasch schaltete Julius den Ton ab. So konnte er sich wenigstens einbilden, daß sie zu ihm sprach, auch wenn er sie nicht verstehen konnte. Irgendwann würde er Julia ihre richtige Stimme zurückgeben können.
    Julius aktivierte das Eingabefenster und gab Julias virtuelles Alter mit achtzehn Jahren an. Zu seiner Enttäuschung veränderte sich die Darstellung auf dem Bildschirm kaum. Erst als er den Vorgang mehrmals wiederholt hatte, erkannte er die Unterschiede. Julias Gesicht war ein wenig schmaler geworden, das Kinn weniger weich und die Lippen eine Nuance voller. Ihr Blick wirkte weniger kindlich, ohne daß er hätte sagen können, was genau sich an ihren Augen verändert hatte. Aber es war immer noch ihr Lächeln, das ihm schmerzhaft bewußt machte, wie sehr er sie vermißte.
    »Verzeih mir«, flüsterte Julius, als er das Bild vom Monitor löschte. »Aber wir sehen uns wieder.« Dann machte er sich an die Arbeit.
    Drei Tage später hatte er den Sprachsynthesemodul mit Hilfe der Tonaufzeichnung des Videos so weit angepaßt, daß er einen Test riskieren konnte. Das Ergebnis war ermutigend, auch wenn noch einige Feinabstimmungen notwendig sein würden, um Sprache und Lippenbewegungen zu synchronisieren. Aber noch war »Julia« wie ein Kind, das nur die Wörter und Sätze nachsprechen konnte, die er ihm vorgab. Bis zu einer wirklichen Unterhaltung war es noch ein weiter Weg.
    Am Institut gab es nichts Neues. Julius hatte allerdings den Eindruck, daß die Stimmung mit jedem Tag gereizter wurde. Gerüchten zufolge arbeiteten die Programmierer fieberhaft an einem neuen Abfragesystem, das einen verbesserten Zugriff auf die Prozesse in Kevins virtuellem Gehirn erlauben sollte. Julius glaubte nicht an einen Erfolg, behielt seine Zweifel jedoch für sich. Gern hätte er mit dem Professor darüber gesprochen, aber der hatte sein Arbeitszimmer schon seit Tagen nicht mehr verlassen.
    Kevin Schwarz lächelte und schwieg weiter, unabhängig davon, ob man ihn beobachtete oder nicht. Daß ein Tag verlief wie der andere und seine Behandlung keinerlei Fortschritte machte, schien ihn nicht zu stören. Offenkundig fühlte er sich in der Klinik wohl, oder er spielte ein Spiel, dessen Regeln er allein kannte. Vielleicht hatte er tatsächlich Verdacht geschöpft und versuchte nun, Gewißheit über die Umstände seiner Existenz zu erlangen. Natürlich war das reine Spekulation, dennoch war Julius überzeugt davon, daß Kevin Schwarz auf etwas wartete. Schon ging das Gerücht um, daß die Sponsoren ungeduldig wurden. Sie erwarteten Ergebnisse, und eine autistische KI wie Kevin war gewiß nicht das, was sie sich darunter vorstellten.
    Im Unterschied zur Arbeit im Institut machte Julius‘ privates

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