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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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...
    Ängstlich starrte Lena zu dem Gebäude hinüber und fragte sich, wer jetzt wohl dort wohnen mochte. Es mußten Fremde sein, denn sie hatten keine Verwandten in der Stadt gehabt. Wahrscheinlich waren sie völlig ahnungslos ...
    »Kommst du?«
    »Was?« Lena fuhr herum. Sergej war bereits ausgestiegen und hielt ihr die Tür auf. »Ach ja, natürlich, entschuldige.« Es war die Ballerina, die Sergejs Hand nahm und sich aus dem Wagen helfen ließ. Das Mädchen Lena wäre schreiend davongelaufen. Wie damals.
    »Du brauchst nicht mitzukommen, Sasch«, sagte Sergej zu dem großen Mann, der ebenfalls ausgestiegen war. »Wir sind in zehn Minuten zurück.«
    »Klar, Chef.« Es klang ein wenig enttäuscht.
    Warum tauschen wir nicht, dachte Lena. Ihr beiden geht da rein, und ich bleibe im Auto, bis ihr wiede r kommt. Das war natürlich Unsinn, aber die Vorstellung amüsierte sie und ließ sie einen Augenblick lang ihre Angst vergessen.
    Ja, sie hatte Angst, und der Umstand, daß Haus und Vorgarten so normal wirkten, ja sogar in einem besseren Zustand zu sein schienen als damals, verstärkte diese Furcht nur noch. Es ging ihm gut, und es wartete auf sie ...
    Die Tafel am Eingangstor bemerkte sie erst, als ein zufälliger Lichtreflex sie blendete. Sie war augenscheinlich neu; die polierte Messingoberfläche blitzte im Licht der untergehenden Sonne.
    Neugierig trat Lena näher und fuhr zusammen, als sie ihren Namen las:
     
    In diesem Haus wurde am 27. November 1998
    Jelena Michailowna Romanowa
    geboren.
    Solistin des St. Petersburg Mariinskij Balletts,
    Prinzipaltänzerin des American Ballet Theatre, New York,
    Im Jahr 2039 wurde ihr der Titel
    einer »Prima Ballerina Assoluta« verliehen.
     
    Lena klammerte sich an Sergejs Arm und las die wenigen Zeilen immer wieder, als habe sie Mühe, den Inhalt zu begreifen.
    Doch es war nicht Rührung, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Lena hatte im Laufe der Jahre unzählige Auszeichnungen erhalten: Pokale, Ehrenpreise, Medaillen, Urkunden. Über manche hatte sie sich ehrlich gefreut, andere als selbstverständlich hingenommen. Aber das hier war etwas anderes, dieses einfache Messingschild am Torpfosten ihres Elternhauses. Es war wie ein Riß in der Zeit, etwas, das unmöglich an diesem Ort existieren konnte ...
    Langsam, beinahe wie in Trance, streckte Lena die Hand aus und fuhr mit den Fingern über die eingravierten Schriftzeichen. Die Tafel war real; sie konnte das kühle Metall unter ihren Fingerkuppen spüren. Lenas Herz begann wieder zu schlagen. Das Gefühl der Unwirklichkeit schwand und machte einer trotziger Entschlossenheit Platz.
    Du hast mich gerufen, Mama, flüsterte Lena lautlos und starrte hinauf zu den Giebelaugen des alten Hauses, deren Glanz mittlerweile erloschen war. Hier bin ich!
    »Gefällt sie dir?«
    Erst jetzt wurde Lena bewußt, das Sergej sie die ganze Zeit über angesehen hatte. Er lächelte so verlegen wie damals, als er ihr die Musikkarte geschenkt hatte – ein gräßliches Ding aus Fernost mit einem Schwanenseemotiv und einer quäkenden Melodie, die Tschaikowski in den Freitod getrieben hätte.
    Sergej war ein Kindskopf. Und sie liebte ihn.
    Lena widerstand der Versuchung, ihn in die Arme zu nehmen. Sie ahnte, daß es nicht dabei bleiben würde. Bis zu den Rosenbüschen waren es nur ein paar Schritte. Niemand würde sie dort beobachten können, jedenfalls niemand von außerhalb. Allein die Vorstellung, daß es möglich war, jagte eine Welle der Erregung durch Lenas Körper.
    »Ach Kindchen, was ist nur aus dir geworden.« Das Haus hatte sie durchschaut, nein, sie hatte Lena durchschaut. »Serjoscha ist so ein netter Junge, und du benimmst dich wie eine Hure.«
    Die Stimme klang nicht mehr so kraftvoll, aber der gehässige Unterton machte Lena dennoch wütend.
    Halt den Mund, Mama. Vielleicht bin ich eine Hure, vielleicht auch nicht. Aber du bist die letzte, die da r über zu ric h ten hätte!
    »Das war etwas anderes. Ich hatte doch nichts mehr«, flüsterte die Stimme so kläglich, daß sich Lena beinahe für ihre Heftigkeit schämte.
    Ich weiß, Mamuschka, schlaf jetzt ...
    »Hast du irgendwas?« Sergej sah verwirrt und ein wenig enttäuscht aus.
    »Was? Nein. Sie ist wirklich wunderschön.« Lena hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Danke.«
    Sergej strahlte: »Dann sollten wir jetzt reingehen.«
    »Hineingehen?« Lena war überrascht. »Und was ist mit den Leuten, die hier wohnen?«
    »Sind nicht da.«
    »Aber  der Garten ...

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