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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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ausreichte.
    »Also gut«, stimmte Lena nach kurzem Zögern zu und begleitete die beiden Männer in einen winzigen Besprechungsraum. Sascha, der Chauffeur, folgte in respektvollem Abstand.
     
    »Ist es noch weit bis ins Hotel?« erkundigte sich Lena eine halbe Stunde später gähnend, während die Limousine wie ein sanft schlingerndes Boot die vertrauten Straßen der Stadt durchquerte. Nichts schien sich verändert zu haben. Jedenfalls nichts, das darauf hindeutete, daß tatsächlich mehr als drei Jahrzehnte vergangen waren, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Ein paar Reklamewände waren dazugekommen, und auf dem Siegesplatz, direkt neben der Michailow-Kirche, hatte man eine Burger-King-Filiale eröffnet, die mit ihren bunten Lichterketten so deplaziert wirkte wie eine Jahrmarktsbude.
    Vor dem Eingang zur Kreisverwaltung hielten zwei Soldaten Wache. Auf dem Parkplatz standen mehrere Jeeps und ein Mannschaftswagen.
    »Ein Rekrutierungsbüro«, sagte Sergej, als er Lenas fragenden Blick bemerkte. »Sie suchen Freiwillige.«
    »Gehen Krimow die Soldaten aus?« General Krimow hatte sich nach dem Zarizyn-Massaker vor zwei Jahren an die Macht geputscht und genoß im Ausland wenig Sympathien.
    »Was weiß ich.« Sergejs Stimme klang abweisend. Lena biß sich auf die Lippen. Sie hätte nicht fragen sollen. Schließlich war Krieg, auch wenn die Front Hunderte Kilometer entfernt war ...
    Sie ließen das Zentrum hinter sich, fuhren die Luchenskaja in Richtung Osten und überquerten schließlich die Brücke über die Uchna, die so sanft und gleichmütig dahinfloß wie all die Jahre, in denen Lena über diese Brücke zur Schule gegangen war. Wie oft hatte sie hier Steine und Holzstücke in den Fluß geworfen und nach dem weißen Segelschiff Ausschau gehalten, das sie von hier wegbringen würde, irgendwohin. Doch das Schiff war nie gekommen.
    »Wohin fahren wir?« fragte Lena und räusperte sich, doch das Brennen in ihrer Kehle blieb.
    »Ins Hotel natürlich«, wiederholte Sergej lächelnd. »Ich möchte dir nur vorher etwas zeigen.«
    Die Straße wurde schmaler, und noch bevor Sascha den Blinker setzte um abzubiegen, wußte Lena, wohin die Fahrt gehen würde. Das Brennen in ihrer Kehle wurde stärker. Sie erkannte jeden Baum wieder, jeden Zaun, jede Straßenlaterne. Sie waren da, als hätten sie in der Zwischenzeit nichts anderes getan, als auf sie zu warten. Es tat weh.
    »Ich will nicht«, hörte sie sich plötzlich sagen. »Dreh um!«
    »Aber es ist doch dein Elternhaus ...« Sergej sah jetzt wieder wie der Junge von damals aus, erstaunt und fast ein wenig beleidigt. »Ich dachte, du wolltest es sehen ...«
    »Schon gut.« Lena zwang sich zu einem Lächeln. »Es kommt nur ein bißchen ... plötzlich. Ich dachte, ich hätte noch etwas Zeit.«
    »Tut mir leid«, stammelte der Junge mit den hellen Augen unglücklich. »Wir können ja auch später...«
    Aber es gab kein Später. Das Haus mit den hölzernen Giebeln hatte Lena bereits durch die Zweige der Birnbäume im Vorgarten hindurch erspäht und griff mit unsichtbaren Armen nach ihr.
    »Da bist du ja, Lenotschka, mein Täubchen«, flüsterte es mit der Stimme ihrer Mutter. »Wir haben so lange auf dich gewartet.«
    Natürlich war die Stimme nicht wirklich, konnte nicht wirklich sein, dennoch spürte Lena, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Wie gebannt starrte sie zu dem alten Haus hinüber. Die Fenster im Obergeschoß schimmerten orangefarben wie die Augen einer alten Katze, auch wenn es wohl nur das Licht der tiefstehenden Sonne war, das sich in ihren Scheiben spiegelte.
    Der Vorgarten des Hauses No. 23 wirkte gepflegt. Der Rasen schien frisch gemäht, und die Rosenstöcke entlang des Zaunes blühten. Also war das Haus immer noch bewohnt.
    »Wieso denn nicht, Kindchen?« Die Stimme in ihrem Kopf klang jetzt so deutlich, daß Lena unwillkürlich zusammenzuckte. »Du bist doch hier zu Hause.« Es war ihre Stimme, die sich in Lenas Erinnerung eingebrannt hatte mit ihrem singenden Tonfall und den verschluckten Konsonanten. Und natürlich hatte sie unrecht: Nicht Lena, sie war hier zu Hause ...
    Laß mich in Ruhe, Mama!
    »Ach Kindchen, du tust mir weh. Dabei habe ich doch deinetwegen alles aufgegeben ...«
    Sei endlich still!
    Das Wehklagen erstarb in einem Schluchzen, und Lena lehnte sich aufatmend zurück. So stark war die Stimme noch nie gewesen, nicht einmal im Traum, und natürlich war das Haus daran schuld. Sie hätte nicht herkommen dürfen

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