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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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American Ballet Theatre, als D a walka als auf dem Rücksitz eines russischen Autos? Die Vorstellung war einfach zu abenteuerlich.
    Aber ich habe es getan, dachte sie mit einer Genugtuung, deren Intensität sie selbst ein wenig irritierend fand. Und wenn ich die Vorstellung heute abend übe r stehe, werden wir es wieder tun, und wenn sich die Le u te hundertmal das Maul darüber zerre i ßen ...
    Du bist vollkommen übergeschnappt, meldete sich der kritischere Teil ihres Bewußtseins zurück. Monat e lang spielst du die Heilige, und kaum in Rußland ang e kommen, b e nimmst du dich plötzlich wie ein Flit t chen.
    Flittchen, na und? dachte Lena schläfrig und drückte Sergejs Hand. Sie konnte seine Wärme noch immer in sich fühlen und stellte sich vor, wie es wohl sein würde, wenn sie mehr Zeit füreinander hatten. Die Vorstellung gefiel ihr, aber Lena widerstand der Versuchung, den armen Sascha ein weiteres Mal in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht war es besser, sich noch ein wenig auszuruhen. Melenki war zwar ein Provinznest und die Bühne im Kulturhaus ein schlechter Witz, aber es war eine Vorstellung, und sie hatte immerhin einen Ruf zu verlieren...
    Der Gedanke an ihren guten Ruf amüsierte sie, und so schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
     
    Melenki empfing Lena Romanowa wie eine Königin.
    Vor dem Kulturhaus erwartete sie eine begeisterte Menschenmenge, die in Beifall ausbrach, als sie ausstieg und an Sergejs Arm die Treppe zu einer winzigen Tribüne erklomm, die man offenbar eigens für diesen Anlaß zusammengezimmert hatte. Es war kurz nach sechzehn Uhr, die Frühschicht in der Textilfabrik wohl gerade zu Ende, und so waren die meisten der Schaulustigen Frauen. Viele, vielleicht sogar die Mehrzahl, waren in Lenas Alter. Einige Gesichter kamen ihr vage bekannt vor, aber die Erinnerung war zu unscharf, um sie bestimmten Namen oder Personen zuzuordnen. Die Frauen sahen müde aus, aber ihre Augen glänzten erwartungsvoll. Der Rest des Publikums waren Kinder in sauber gebügelten Schuluniformen und ihre Lehrer, Müßiggänger und Pensionäre, die wohl auch vor Ort gewesen wären, wenn an Lenas Stelle ein Wanderzirkus oder ein Trupp Feuerschlucker die Stadt mit ihrem Besuch beehrt hätten. Die kleinste, aber auffälligste Gruppe war die der Kriegsveteranen – grauhaarige Männer in verblichenen Militärmänteln, auf denen Medaillen und farbige Ordensbänder prangten. Sie saßen auf Parkbänken, die sie wohl eigens herbeigeschleppt hatten, und verfolgten das Geschehen mit undurchdringlichen Mienen.
    Papa würde heute einer von ihnen sein, dachte Lena, und ihre Hochstimmung verflog. Doch Michail Alexandrowitsch Romanow, Oberleutnant der Reserve und Tschetschenien-Veteran, war nicht hier. Lenas Vater hatte das Kunststück fertiggebracht zu verschwinden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Vielleicht hatte er sich auf einer seiner »Exkursionen«, wie er sie nannte, verirrt und war in einem Sumpfloch ertrunken, oder man hatte ihn umgebracht und die Leiche irgendwo verscharrt. Lena würde es nie erfahren, ebensowenig wie ihre Mutter, die daran zerbrochen war ...
    Der Bürgermeister, ein gutmütig aussehender Mittvierziger, überreichte Lena die Ehrenplakette der Stadt und hielt eine angemessen begeisterte Rede. Er zählte die Stationen ihrer Karriere und ihre Auszeichnungen auf und dankte ihr schließlich im Namen der Bürgerschaft dafür, daß sie der Russischen Förderation, dem Bezirk Vladimir und vor allem der Stadt Melenki auf den Bühnen der Welt Ehre gemacht hatte. Lena lächelte höflich und fragte sich, wie viele Ballettliebhaber sich wohl für ihren Geburtsort interessierten, aber das war jetzt wohl nebensächlich. Der Redner bedankte sich auch bei Sergej, dessen Engagement man diesen »bedeutenden und überaus erfreulichen« Besuch zu verdanken habe. Die Zuschauer klatschten, und dann trat ein, was Lena befürchtet hatte: Sie wurde ans Mikrofon gebeten.
    Lena trat nach vorn und wußte plötzlich, daß sie die vorbereitete Rede nicht halten würde. Sie hatte darüber sprechen wollen, was ihren Eltern widerfahren war und weshalb sie sich entschieden hatte fortzugehen, aber das konnte sie jetzt nicht mehr. Es hätte selbstgerecht geklungen und falsch. Ihr Vater war als gebrochener Mann aus dem Krieg zurückgekehrt, das stimmte, und ihre Mutter hatte sich vor ihren Augen zu Tode getrunken, aber so etwas geschah in Rußland jeden Tag. Wenn jemand Anspruch auf Mitgefühl hatte, dann waren

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