Die Schatten des Mars
einschalten.«
Ziemlich umständlich für einen Lichtschalter, dachte Lena. Oder w a rum dauert das so lange? Irgendwo klickte etwas metallisch, dann ein Summen wie von einem Elektromotor. Was hat er vor?
»Serjoscha?«
»Ja?« Das mutwillige Glitzern in seinen Augen entging ihr ebensowenig wie der Anflug von Rot auf seinen Wangen.
Natü r lich hatte er etwas vor.
»Was ist da drin?«
»Ach, nichts weiter ... Er nennt es eine Installation. Ich weiß noch nicht mal, ob es schon fertig ist.«
Und ob du das weißt, dachte Lena. Ihre Furcht war verflogen. Was auch immer sich hinter dieser Tür befand, es hatte nichts mit ihrer Mutter zu tun. Sie war nicht mehr hier. Die Stimme in Lenas Kopf war verstummt.
»Lena, warte!« Sergej schien etwas eingefallen zu sein.
»Ja?«
»Ich weiß nicht, vielleicht war es doch keine so gute Idee ...«
»Was denn?«
»Na ja, diese ... Installation.« Sergej versuchte, ihrem Blick auszuweichen. »Du wirst sie vielleicht albern finden ...«
»Bestimmt nicht«, versicherte Lena überzeugt. Seine Verlegenheit rührte sie, aber sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Was auch immer hinter dieser Tür war, sie mußte sich endlich Gewißheit verschaffen.
Noch bevor sie die Klinke niedergedrückt hatte, hörte sie die Musik. Giselle. Lena würde die Melodie überall erkennen. Der Tanz der jungen Wilis im 2. Akt ...
Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Tür. Der Raum war größer als erwartet und nur spärlich beleuchtet. Er schien leer zu sein, bis auf einen einzigen Stuhl in der Mitte und ein Podest an der rechten Stirnseite. Nein, kein Podest, eher eine Art Bühne, die von verborgenen Scheinwerfern in diffuses weißes Licht getaucht wurde.
Der Lichtblitz blendete sie für Sekunden, und als sie wieder sehen konnte, war die Bühne nicht mehr leer. Mit offenem Mund starrte Lena auf die weißgekleidete Gestalt, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Ihr Gesicht lag im Schatten, aber noch bevor der Schweinwerferkegel nach oben gewandert war, begriff Lena: Die Frau auf der Bühne war niemand anderes als sie selbst!
Die Illusion war so vollkommen, daß Lena einen Augenblick lang an ihren Sinnen zweifelte. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Die andere Lena war immer noch da. Sie trug ein langes weißes Kleid und stand, nein, schwebte vollkommen regungslos einige Zentimeter über dem Bühnenboden. Fast schien es, als sei die Tänzerin mitten in der Bewegung erstarrt – eingehüllt in einen Kokon aus gefrorener Zeit wie ein Insekt in einen Harztropfen.
Das Bild wirkte ebenso irritierend wie gespenstisch. Vielleicht bedurfte es nur eines einzigen Wortes, einer Beschwörung, und der Bann wäre gebrochen. Giselle würde den angefangenen Sprung zu Ende bringen und weitertanzen. Das unsichtbare Orchester wurde lauter, das Licht begann im Rhythmus der Musik zu flackern. Für Sekunden hielt Lena den Atem an, doch die Haltung der Ballerina veränderte sich nicht, auch wenn das Zucken des Lichtes Bewegung suggerierte. Erst allmählich wurde ihr klar, daß die Tänzerin, so natürlich sie auch wirkte, gar nichts anderes sein konnte als eine geschickte optische Täuschung.
Jetzt erkannte sie auch das Kleid, das die jüngere Version ihrer selbst trug; sie hatte es vor Jahren eigens für einen Auftritt im Pariser Palais Garnier anfertigen lassen. Wie lange war das jetzt her? Mit einer Spur Eifersucht registrierte Lena die makellos glatte Haut ihrer Doppelgängerin, den Glanz ihres Haares. Diese Lena war mit Sicherheit kaum älter als dreißig Jahre ...
»Ein Hologramm«, sagte jemand hinter ihr. »Gefällt es dir?«
Lena fuhr erschrocken herum. Es war natürlich Sergej, der sie so hoffnungsvoll anstrahlte, daß sie gar nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwidern. Er war tatsächlich ein Narr. Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Und was mochte das alles gekostet haben? Hatte er tatsächlich geglaubt, sie freue sich über diese Begegnung mit ihrem jüngeren Ich?
Doch dann fiel Lenas Blick auf den Stuhl, und plötzlich sah sie ihn hier sitzen, allein in dem abgedunkelten Raum. Allein mit der Musik und dem aus Lichtstrahlen gewebten Bild einer Frau, die unerreichbar fern war. Wie oft mochte er so gesessen und sich gewünscht haben, sie wäre bei ihm? Wie einsam mußte er gewesen sein ...
»Sie ist jung«, sagte Lena nach einer Weile. Ihre Stimme klang heiser.
Sergej sagte nichts, sah sie nur an.
»Aber sie kann dich nicht wärmen«, stellte sie mit einem
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