Die Schatten des Mars
es doch wohl eher jene, die nie so eine Chance bekommen hatten wie sie. Aber vielleicht hatte sie erst herkommen müssen, um das zu begreifen ...
Lena knüllte den Zettel mit den Notizen zusammen und beschränkte sich auf einige unverbindlich-freundliche Dankesworte. Die Einladung habe sie überrascht und erfreut, sagte sie (was wenigstens zum Teil der Wahrheit entsprach), und es sei ein wunderbares Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Da der strafende Blitzstrahl ausblieb, fügte sie noch hinzu, wie sehr sie sich auf den heutigen Abend freue. Auch das stimmte, nur hatte es nichts mit dieser Farce von einem Soloauftritt zu tun, zu der sie sich hatte überreden lassen ...
Die Zuhörer klatschten begeistert, Schuljungen pfiffen auf den Fingern, und Lena spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, als sie in all die lächelnden, freundlichen Gesichter sah. Sie war eine geübte Heuchlerin, schließlich hatte sie schon Hunderte von Interviews gegeben, in denen sie stets beteuert hatte, wie sehr sie sich doch auf den jeweils bevorstehenden Auftritt vor dem »großartigen Publikum dieser wunderbaren Stadt« freue, aber das hier war etwas anderes.
Du bist ein verlogene Schlampe, zischelte eine Stimme in ihrem Kopf, betrügst die eigenen Leute.
Die Veteranen nickten zustimmend, als hätten sie mitgehört. Ihre steinernen Gesichter erinnerten Lena an die alten Männer auf dem Schrottplatz und noch mehr an die düsteren Gestalten des »Sacre«, und vielleicht war das ein Zeichen ...
Lena war nicht besonders abergläubisch, aber ihre Knie zitterten, als sie sich über das Geländer beugte, um Hände zu schütteln oder die schon leicht vergilbten Künstlerpostkarten zu signieren, die man ihr entgegenhielt.
Dann war die offizielle Zeremonie endlich vorüber, und Lena klammerte sich an Sergejs Arm, während er sie die Tribüne hinab in das schattige Foyer des Kulturhauses führte. Das Zwielicht und der seltsam vertraute Geruch nach feuchtem Mauerwerk und Bohnerwachs verstärkten das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie den ganzen Tag über nicht losgelassen hatte. Doch hier schien die Zeit tatsächlich stehengeblieben zu sein.
Gleich würde der alte Maxim aus seiner Loge gestürmt kommen und sie in die Garderobenräume scheuchen: »Rasch, Kinder, zieht euch um, die Baba-Jaga wartet schon auf euch!« Die »Baba-Jaga« hieß in Wirklichkeit Olga Smirnowa und leitete den Ballettzirkel. Die Smirnowa war ein in abenteuerliche Roben gehülltes Gerippe, das Papyrosi rauchte und wie ein Bierkutscher fluchte. Sie brauchte weniger als vier Wochen, um die Zahl der Kursteilnehmerinnen von fünfundzwanzig auf jene acht zu dezimieren, die ihren Schikanen gewachsen waren. Lena war ihre Lieblingsschülerin und durfte nach dem Ende der offiziellen Probe noch bleiben, um schwierige Schrittkombinationen und Sautés zu üben. Gewürzt wurden diese zusätzlichen Übungseinheiten mit wehmütigen Anmerkungen die gute alte Zeit betreffend, in der Ballettschülerinnen noch »Talent und Feuer« besessen hätten und nicht »über die Bühne stolperten wie in Tüll gewickelte Piroggen« ...
Lena zuckte zusammen, als plötzlich ein Mann aus dem Schatten trat, den sie einen Augenblick lang tatsächlich für den alten Maxim hielt. Doch rasch erkannte sie ihren Irrtum. Der elegant gekleidete ältere Herr wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Faktotum des Musentempels auf.
»Professor Dimitri Sarokin«, stellte Sergej den Neuankömmling vor. »Künstlerischer Leiter und Dirigent der Vladimirer Philharmonie.«
»Sehr erfreut«, versicherte Lena und genoß die Bewunderung, die sie in den Augen des Musikers zu sehen glaubte. Er war groß und schlank und bestätigte den Eindruck eines Kavaliers der alten Schule durch einen formvollendeten Handkuß, der Lena zu einem Lächeln reizte.
»Es ist mir eine große Ehre, Madame Romanowa«, erklärte der Professor mit leicht nervösem Zucken in den Mundwinkeln, »aber wenn sich das Orchester heute abend nicht blamieren soll, benötigen wir für die Proben noch einige Details zu den von Ihnen ausgewählten Stücken. Wenn Sie so freundlich wären ...«
Die Ernsthaftigkeit des Mannes beeindruckte Lena. Sie hatte mit einem hastig verpflichteten Provinzorchester gerechnet, das üblicherweise Strauß-Walzer oder Offenbach-Melodien zum besten gab. »Philharmonie« klang jedenfalls schon einmal nach Professionalität, auch wenn die verbliebene Zeit natürlich niemals für die notwendige Probenarbeit
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