Die Schatten des Mars
hochmütigen Blick in Richtung ihres jüngeren Ichs fest.
»Du warst nicht hier«, sagte der Mann und trat einen Schritt auf sie zu.
»Jetzt bin ich da«, sagte Lena. Die Musik übertönte das raschelnde Geräusch, mit dem ihr Kleid zu Boden glitt.
Wenn er noch einmal zu ihr hinsieht, kratz ich ihm die Augen aus, nahm sie sich vor, aber das war natürlich nicht ernstgemeint: Es würde nicht dazu kommen.
Dann war Sergej bei ihr und nichts anderes mehr wichtig.
Später, als die Musik verstummt war, und der Schweiß auf ihrer nackten Haut zu trocknen begann, fragte sie ihn: »Bist du nie auf die Idee gekommen, auch wegzugehen?«
»Nachzukommen, meinst du? Nein, ich wäre dir nur im Weg gewesen.«
Lena spürte einen leisen Stich der Enttäuschung, obwohl sie wußte, daß er recht hatte. Wahrscheinlich hätte sie sich geschmeichelt gefühlt, wenn er ihr nachgereist wäre, aber geändert hätte es nichts. Weder Sergej noch sonst jemand auf der Welt hätte sie davon abbringen können, das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte ...
»Ich habe versucht, dich zu vergessen«, sagte Sergej, ohne sie dabei anzusehen. »Ich dachte, es sei leichter, wenn ich das alles nicht mehr um mich habe, die Straßen, den Park, die Wiesen am Fluß ...«
»Du bist weggegangen?« Warum hatte er ihr nichts davon erzählt?
»Das könnte man so sagen. Aber es war kein bestimmter Ort, wo ich gewesen bin, sondern viel zu viele im Laufe der Jahre. Und meistens haben schon die eigenen Leute dafür gesorgt, daß man nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte. Ganz zu schweigen von den anderen ...«
Er hielt inne. Lena spürte, daß er nur auf ein Wort von ihr wartete um weiterzusprechen, aber sie schwieg. Dieser Tag sollte nur ihnen allein gehören, und jede Erinnerung an das Davor würde ihm etwas von seinem Glanz nehmen. Natürlich würde sie ihm zuhören – später, aber nicht heute und nicht in Gegenwart jener anderen Lena, für die nie etwas anderes wichtig sein würde als dieser eine Tanz.
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte sie leise und strich ihm über das Haar wie einem Kind. Es war weich und warm wie das Fell eines Tieres. »Dein Freund Sascha wird sich schon Sorgen machen.«
»Kaum«, sagte der Mann mit einem traurigen Lächeln. »Er weiß am besten von uns dreien, wann er sich Sorgen machen muß.«
Lena ließ die Andeutung unbeachtet und griff nach ihren Kleidern. Sie spürte seine Blicke auf ihrer Haut, während sie sich anzog und lächelte über sein Bemühen, unbeeindruckt zu erscheinen Er war es nicht, dafür sprachen nicht nur die fahrigen Bewegungen, mit denen er versuchte, seine Kleidung in Ordnung zu bringen. Vielleicht verstand Sergej etwas von den Dingen, mit denen er sich sonst beschäftigte, von Frauen verstand er jedenfalls nichts. Er begriff ja noch nicht einmal, daß auch das eine Vorstellung war, die sie allein für ihn gab ...
Als sie aufbrachen, ließ sie es zu, daß er ihre Hand nahm, und so verließen sie das Haus wie ein frisch verliebtes Teenager-Pärchen. Vielleicht waren sie das sogar in gewisser Weise, wenn man die verlorenen Jahre nicht zählte ...
Das Orchester war gut. Zunächst war es nur ein Gefühl gewesen, durch nichts anderes begründet als ein paar dissonante Tonfolgen, die beim Stimmen der Instrumente den Weg in Lenas Garderobe gefunden hatten. Irgendwie hatten sie so geklungen, als würden die Musiker ihr Handwerk verstehen.
Doch jetzt, als Lena aufgeregt wie eine Elevin am hinteren Bühneneingang hin- und herlief, wurde die Vermutung zur Gewißheit. Natürlich stellte Prokofjews »Cinderella« technisch nicht unbedingt eine Herausforderung für ein versiertes Orchester dar, dennoch bedurfte seine Interpretation wie eigentlich jedes Ballettstück einer gewissen Disziplin und Werktreue, die den Tänzern Sicherheit verlieh.
Mit den ersten Tönen erstarb des Murmeln und Raunen der Menge, das den Saal bis dahin wie dumpfes Meeresrauschen erfüllt hatte. Die exakten Tempi des einleitenden Vorspiels ließen keinerlei Zweifel daran aufkommen, daß Dirigent und Orchester eine perfekt abgestimmte Einheit bildeten. Die Einleitung verklang, und Lena nahm mit klopfendem Herzen ihren Platz in der Bühnenmitte ein, bis sich endlich der Vorhang öffnete und die Scheinwerfer aufflammten.
Der Beifall brach wie eine Woge über sie herein, und plötzlich war ihre Nervosität wie weggeblasen. Anmutig wechselte sie die Positionen, verneigte sich nach links, rechts und noch einmal in Richtung Saalmitte, bis
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