Die Schatten des Mars
also insgesamt fast sechzehn Stunden, von denen er sich höchstens an zwei oder drei erinnern konnte!
Schließlich griff er nach seinem Rucksack, den jemand unmittelbar neben seiner Schlafstelle abgestellt hatte, und suchte nach Eßbarem. Er war hungrig, und seine Zunge klebte trocken am Gaumen. Während der Brennsatz das Kaffeewasser erhitzte, versuchte er, die Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenzusetzen. Das Ergebnis war unbefriedigend, von einer Tatsache, nein, einer Gewißheit abgesehen: Anna war noch am Leben! Weshalb hätte der Chanan ihm sonst ihr Bild zeigen sollen?
Flemming und die zuständigen Behörden mochten behaupten, was sie wollten. Martin wußte jetzt, daß sie noch am Leben war, und er würde sie finden. Die Aussicht beflügelte seine Lebensgeister ebenso wie der heiße Kaffee, den er während des Essens schlürfte. Deshalb zögerte er danach auch nicht länger, sondern pfiff die Rummdogs zu sich und gab das Kommando für den Rückmarsch: »Auf geht’s, Jungs – nach Hause!«
Als sie die Straße am Fuße der silbernen Berge verließen, dämmerte es bereits. Taygeta hatte mittlerweile das Geschirr übernommen und führte die kleine Gruppe mit der Präzision ihres digitalen Gedächtnisses hangaufwärts ihrem Zuhause entgegen. Rein mechanisch setzte Martin einen Schritt vor den anderen und warf nur hin und wieder einen sehnsüchtigen Blick nach oben, wo jeden Augenblick die vertraute Silhouette der Windschutzmauern auftauchen mußte.
Eine seltsame Unruhe hatte sich unterwegs seiner bemächtigt – eine Unruhe, die jeden unnötigen Aufenthalt, jede Verschnaufpause ausschloß. Martin besaß keine Erklärung dafür, und er benötigte auch keine. Genau genommen hatte er sich sogar verboten, darüber nachzudenken.
Als er das Licht sah, blieb Martin wie angewurzelt stehen. Die Leine straffte sich, und Taygeta stieß ein mißbilligendes Knurren aus.
Martin achtete nicht darauf. Er erinnerte sich genau, daß er alle Lampen gelöscht hatte, bevor er das Haus verlassen hatte. Natürlich konnte der schwache gelbliche Lichtschimmer alle möglichen Ursachen haben. Flemming konnte mit seinem Jeep vorbeigekommen sein oder Doktor Fromberg mit einem neuen kybernetischen Wunderwerk ... aber Martin glaubte nicht daran.
Eine wilde, scheinbar völlig irrationale Hoffnung hatte von ihm Besitz ergriffen und alle anderen Erwägungen ausgelöscht.
Er ließ die Führungsleine fallen und begann zu laufen, ohne sich um die verdutzten Rummdogs zu kümmern.
Noch verbarg die äußere Windschutzmauer den größten Teil des Anwesens, aber Martin wußte, wer das Licht angezündet hatte, hatte es vielleicht die ganze Zeit über gewußt ...
»Anna!« rief er mit tränenerstickter Stimme, während er wie ein Betrunkener vorwärts stolperte. »Anna! Du bist da!«
Die Frau im Schatten
Miriam Green hatte sich in einem der gesichtslosen Billigappartements einquartiert, die die Gesellschaft für weniger betuchte Einwanderer am Stadtrand von Port Marineris errichtet hatte. In ihrer Anonymität und Tristesse ähnelten sie den Betonburgen von Marseille oder Ost-Berlin mit dem Unterschied, daß man sich hier selbst nach Einbruch der Dunkelheit gefahrlos bewegen konnte. Ausgedehnte Spaziergänge blieben so Miriams einzige Ablenkung, denn im Gegensatz zu den meisten ihrer Nachbarn ging sie keiner geregelten Arbeit nach. Abgesehen von der fehlenden wirtschaftlichen Notwendigkeit verspürte sie keinerlei Neigung, Touristen überteuerte Souvenirs zu verkaufen, senilen Pensionären den Hintern zu wischen oder in den Clarith-Minen ihre Gesundheit zu riskieren.
Miriams Abneigung, sich ihrer Umgebung anzupassen, gefährdete zwar ihre Tarnung, aber solange man nicht nach ihr suchte, spielte das keine Rolle. Wichtiger war, daß jene, auf die es ankam, keinen Verdacht schöpften. Offiziell war sie bei einem Tauchunfall nahe der Isla Margarita ums Leben gekommen. Ihre Leiche wurde zwar nie gefunden, aber das war angesichts der Umstände nicht ungewöhnlich. Solange die Behörden und vor allem ihre ehemaligen Auftraggeber davon ausgingen, daß die Reste ihres ausgeweideten Körpers irgendwo zwischen den Korallenbänken trieben, bestand keine Gefahr. Für Miriams neues Leben bedeutete das vor allem eines: Sie durfte nie wieder ins Netz zurückkehren ...
Miriam hätte nie geglaubt, daß ihr der Verzicht so schwerfallen würde. Manchmal nahm sie ihr altes Notebook aus dem Koffer, klappte es auf und fuhr mit den Fingerspitzen über
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