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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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sich von der Begeisterung der Fachwelt anstecken lassen und die Partie am Computer nachgespielt, ohne jedoch auch nur im Ansatz zu begreifen, wie es zur Niederlage der als unbesiegbar geltenden elektronischen Intelligenz hatte kommen können. Noch Monate nach dem Duell waren sich die Experten uneins darüber, ob Borodin zum Zeitpunkt seines Qualitätsopfers bereits gewußt hatte, daß die Schwächung des gegnerischen Königsflügels ihm Dutzende Züge später eine Siegchance eröffnen würde. »Mighty Joe« hatte jedenfalls nicht damit gerechnet ...
    Das Dossier über Borodin enthielt kaum mehr als die üblichen Angaben zur Person. Brisant war allein der Auftrag selbst: Miriam sollte unauffällig – also anonym und ohne offizielle Rückendeckung – recherchieren, ob sich »unberechtigte Dritte« für das Umfeld und die Gewohnheiten des Weltmeisters interessierten. Worauf sich diese Vermutung gründete, ging aus dem Dokument nicht hervor, und Miriam fragte auch nicht nach, sondern machte sich sofort an die Arbeit. Schnell wurde ihr klar, daß es keine leichte Aufgabe sein würde. Borodins persönliches Umfeld war perfekt abgeschirmt, nicht nur von seinen eigenen Leibwächtern, sondern auch von Beamten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, die offenbar die Überwachungsmaßnahmen und den Personenschutz koordinierten. Die Nervosität der Russen war verständlich, denn der bevorstehende Weltmeisterschaftskampf gegen den pakistanischen Herausforderer Chandrigar sorgte nicht nur in sportlicher Hinsicht für Aufregung. Als Miriam endlich auf eine erste Spur stieß, war Borodins Team bereits auf dem Weg nach Nikosia, dem Austragungsort des Duells um die WM-Krone. Die Person, die Borodin ausspionierte, erwies sich als ein ebenbürtiger Gegenspieler, der seine Identität professionell zu verschleiern wußte und sich sofort zurückzog, wenn ihm ein Kontakt verdächtig erschien. Miriam kam dem Unbekannten auf die Spur, als er – geschützt durch eine Kaskade von Anonymisierungsservern – auf eine der gefakten Informationsseiten zugriff, die sie als Köder ins Netz gestellt hatte. Die Lesezugriffe dauerten nie lange genug, um sie zurückverfolgen zu können, waren aber so zahlreich und gezielt, daß ein Zufall ausgeschlossen werden konnte. Schließlich gelang es Miriam mittels einer fingierten Überweisung auf eines von Borodins Konten, den »unberechtigten« Zugriff der Gegenseite zu dokumentieren und so erfolgversprechend zurückzuverfolgen, daß sie einen Antrag auf offizielle Ermittlungsvollmacht und Amtshilfe begründen konnte. Zu ihrer Überraschung wurde der Antrag abgelehnt. Als Miriam weiter insistierte, gab man ihr zu verstehen, daß die Angelegenheit auf Anweisung »von oben« an eine andere Abteilung übergeben worden sei. Weitere Aktivitäten von ihrer Seite seien ausdrücklich unerwünscht.
    Das brisante Weltmeisterschaftsduell entschied Nikolai Borodin überlegen mit 6,5 zu 3,5 Punkten für sich. Keine der Partien erreichte auch nur annähernd das Niveau der Auseinandersetzung mit »Mighty Joe«. Um so dramatischer waren die Folgen für die Beteiligten. Mahmud Chandrigar wurde noch auf dem Flughafen von Islamabad von einem enttäuschten Anhänger niedergestochen und erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Zwei Wochen später explodierte ein Brandsatz unter dem Beifahrersitz von Borodins gepanzerter Mercedes-Limousine. Er selbst überlebte mit schwersten Brandverletzungen und wurde sofort in eine Spezialklinik geflogen, doch für seine Frau Tatjana kam jede Hilfe zu spät. Bereits am nächsten Tag verhaftete die Polizei den ersten Verdächtigen, einen von Borodins Leibwächtern. Wenig später verkündeten Innenministerium und FSB auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, daß der Mann gestanden und Hinweise auf die Auftraggeber gegeben hätte. Weitere sechs Wochen später, nach Ablauf eines Ultimatums gegenüber der pakistanischen Regierung, die Beschuldigten auszuliefern, bombardierten russische Kampfflugzeuge Regierungsgebäude in Islamabad sowie die Zentrale des Geheimdienstes ISI. Der Krieg im Mittleren Osten trat in eine neue Phase ...
    Miriam verfolgte die Ereignisse mit einer Mischung aus Faszination, Schrecken und diffusen Schuldgefühlen. Zwar hatte es keinerlei Hinweise auf einen Anschlag gegeben, dennoch konnte sie nicht ausschließen, daß jener Unbekannte auf die eine oder andere Weise darin verwickelt war. Vielleicht hätte eine Ausweitung der Ermittlungen das Attentat sogar verhindern können.

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