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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Herausforderung. Die Unterhaltungsprogramme, die das örtliche Kabelnetz anbot, waren von unerträglicher Banalität, die Nachrichten so oberflächlich, verlogen und deprimierend, daß Miriam bald völlig darauf verzichtete, das Multivisionsterminal einzuschalten. Ihr Leben erschöpfte sich in der Routine zwischen morgendlichem Gymnastikprogramm, gelegentlichen Besorgungen im nahegelegenen Einkaufszentrum und lustlos zubereiteten Mahlzeiten. Die einzige Abwechslung bildeten Spaziergänge, die sie bald bis an die Grenzen der geschützten und durch Warnschilder gekennzeichneten Siedlungszone führten.
    Die Fremdartigkeit der kargen Landschaft draußen übte eine seltsame Faszination auf sie aus und weckte den Wunsch in ihr, tiefer einzudringen in die dämmrige Weite bis hin zu jenen fernen Gebirgszügen, die irgendwo in der Höhe mit dem Himmel verschmolzen.
    Nachdem Miriam herausgefunden hatte, daß Temperatur und Sauerstoffgehalt der Luft jenseits des Energieschirms keineswegs so abrupt abfielen, wie die Hinweistafeln suggerierten, dehnte sie ihre Streifzüge oft bis an die Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit aus. Das Atmen fiel ihr schwer, und manchmal tanzten farbige Ringe vor ihren Augen, wenn sie so weit gestiegen war, daß die Stadt mit ihren Lichtern wie eine schimmernde Kuppel unten im Tal lag. Die Kälte stach wie mit tausend Nadeln auf ihre Haut ein, und ihre Glieder schmerzten, doch jenseits aller Erschöpfung verspürte sie dann ein schwindlig machendes Gefühl der Befreiung, als hätte sie mit der Stadt auch ihr Menschsein und alle Schuld hinter sich gelassen.
    Immer häufiger dachte sie darüber nach, wie es wohl wäre, für immer wegzugehen und draußen zu leben an Orten, die nie ein Mensch vor ihr betreten hatte.
    Auf einem ihrer Streifzüge begegnete sie einem Steinsucher, der überrascht war, sie ohne Ausrüstung so weit außerhalb der Stadtgrenzen anzutreffen. Der Mann selbst trug einen dunkel schimmernden Thermooverall und eine Osmosemaske, die seine Stimme dumpf und ein wenig verzerrt klingen ließ. Er war in Begleitung eines kräftigen Wolfshundes, der Miriam die ganze Zeit über mit leuchtend gelben Augen anstarrte. Als sie sich nach seiner Rasse erkundigte, lachte der Fremde und fragte, ob sie denn noch nie einem »Rummdog« begegnet sei. Miriam verneinte und erfuhr, daß es sich dabei um kybernetische Konstruktionen handelte, die nicht nur Sonnensteine aufspüren konnten, sondern auch über ein autarkes Navigationssystem verfügten, das sie jeden Ort wiederfinden ließ, der einmal in ihrem elektronischen Gedächtnis gespeichert war. Geschmeichelt von der Aufmerksamkeit der jungen Frau fügte er hinzu, daß selbst die Leute draußen nicht mehr ohne Rummdogs auskämen, obwohl sie sich doch eigentlich auskennen müßten. Auf ihre Frage, was denn das für Leute seien, zuckte er mit den Achseln und murmelte etwas wie »anders als unsereiner«, was die Vermutung zuließ, daß ihm das Thema unangenehm war. Bevor er sich verabschiedete, empfahl er Miriam jedoch noch einmal dringend, sich einen Sauerstoffkonzentrator zuzulegen, wenn sie schon nicht auf weitere Ausflüge verzichten wolle. Sie bedankte sich höflich und sah dem Fremden nach, bis er mit seinem vierbeinigen Begleiter in der Dämmerung der Berge verschwunden war.
    Obwohl Miriam keineswegs vorhatte, unter die Steinsucher zu gehen, befolgte sie den Rat des Mannes, indem sie sich eine bescheidene Zusatzausrüstung besorgte. Sie hatte sich ein wenig umgehört und wußte jetzt, daß draußen tatsächlich Menschen lebten, die der Zivilisation den Rücken gekehrt hatten. Über deren Motive erfuhr sie so gut wie nichts, wohl aber einige Namen, darunter einen, dessen Erwähnung sie förmlich elektrisierte: Nikolai Borodin. »Der Schachweltmeister?« hatte Miriam ungläubig nachgefragt und die von einem Achselzucken begleitete Bestätigung erhalten: »Ja doch, na und?«
    Miriam hatte den wohl bekanntesten Schachspieler der Neuzeit zwar nie persönlich kennengelernt; dennoch hatten sich ihre Wege schon einmal gekreuzt. Damals ...
     
    Als die Akte in ihrer Auftragsbox aufgetaucht war, hatte Borodin gerade die amtierende Nummer Eins im Computerschach, eine KI namens »Mighty Joe«, in einem Match über zwölf Partien sensationell geschlagen und stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die entscheidende Partie nach elf vorangegangenen Remis war in die Schachgeschichte eingegangen. Auch Miriam, die selbst ganz leidlich Schach spielte, hatte

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