Die Schatten des Mars
sehen, hören, fühlen, denken, aber nicht nur von einem einzigen Standort aus, sondern an jedem Ort seiner Umgebung. Nichts von dem, was er innerhalb der Grenzen des im Zeitstrom dahinfließenden Raumes wahrnahm, erschien ihm fremd oder gar unheimlich. Selbst die fernsten Himmelskörper waren ihm vertraut und innerhalb von Augenblicken erreichbar. Nicht im physikalischen Sinne allerdings, denn in gewisser Weise war er ja bereits dort. Die vermeintliche Annäherung war nicht mehr als ein Wechsel der Perspektive. Dennoch genoß er es, wenn sich die Sterne scheinbar durch die Kraft seines Willens aus dem Dunkel lösten und in riesige, glühende Sonnen verwandelten. Er wußte, welche Planeten sie umkreisten und wie es auf deren Oberfläche aussah, ob es dort Wasser gab oder gar Leben. Er kannte jedes Tier, jede Pflanze, als hätte er Monate oder sogar Jahre auf ihren Heimatwelten verbracht. Und vielleicht hatte er das auch, denn seine Erinnerungen waren so vielfältig und präzise, daß er Mühe hatte, sich nicht in Einzelheiten zu verlieren. Es gab auch bewußtes Leben in seiner Welt, aber das war selten und zumeist so primitiv, daß sein Interesse daran rasch erlahmte. Die einzige Ausnahme bildeten die Menschen auf dem Nachbarplaneten seiner Heimatwelt, denen er sich auf schwer zu beschreibende Weise verbunden fühlte. Die Gründe für diese Beziehung lagen im Dunkel seiner Herkunft verborgen, ein blinder Fleck in seinem Gedächtnis und ein Rätsel, das nach wie vor der Lösung harrte. Oft hielt er sich unbemerkt in ihrer Nähe auf, um einzelne von ihnen zu beobachten. Dabei registrierte er nicht nur, was sie im Augenblick dachten oder sprachen, er durchforschte auch ihre Vergangenheit, alles, was sie erlebt hatten, selbst wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnten. Er kannte sogar ihre Träume, und manchmal spürte er das im Grunde irrationale Verlangen, an ihrem Leben teilzuhaben, einer von ihnen zu sein. Dabei hatte er längst die Erfahrung gemacht, daß sie ihn nicht verstehen konnten, selbst wenn er menschliche Gestalt annahm und ihre Sprache benutzte. Dennoch versuchte er es immer wieder, vielleicht weil er spürte, daß ihre Zeit zu Ende ging. Sie würden ihm fehlen. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, sich einzumischen, verwarf ihn aber sofort wieder. Ein Bruch der Regeln würde alles nur noch schlimmer machen. So konnte er nur hoffen, daß der eine oder andere den Weg fand, bevor die Katastrophe endgültig ihren Lauf nahm. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr ...
Das fremde Bewußtsein gab Martin so unvermittelt frei, daß er das Gefühl hatte, innerhalb kürzester Zeit auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe zu schrumpfen. Wieder wechselte die Perspektive, und er fand sich an einem Ort wieder, der ihm seltsam vertraut erschien:
Er saß vor einem kleinen Café, knapp fünfzig Meter oberhalb des Strandes, und genoß den Blick auf das Meer. Kinder warfen sich kreischend in den Gischt der träge heranrollenden Wellen und ließen sich in Richtung Ufer tragen. Eine Dreimastbark glitt mit geblähten Segeln vorbei, gefolgt von einem Schwarm lärmender Möwen. Es roch nach Tang und den blühenden Sträuchern, die rings um das kleine Anwesen der Sonne entgegenwucherten.
Das Bier war kühl. Es machte Spaß, mit dem Finger über die beschlagene Oberfläche des Glases zu fahren. Im Vorgarten legte der Koch die ersten Fleischspieße auf den Holzkohlegrill.
Am Nachbartisch saß eine junge Frau vor ihrem Capuccino und las. Das straff nach hinten gekämmte und zu einem Knoten gebundene Haar verlieh ihrem gebräunten Gesicht eine strenge Note, die in reizvollem Gegensatz zu den weichen Schwüngen ihrer dunkel geschminkten Lippen stand ...
Doch etwas war anders.
Martin vermochte nicht zu sagen, was es war, bis die junge Frau das Buch sinken ließ und mit gerunzelter Stirn hinaus aufs Meer blickte. Sie schien beunruhigt. Doch so sehr Martin seine Augen auch anstrengte, er vermochte nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Das Meer lag ruhig unter der Last der Mittagssonne, nur in der Ferne tanzten winzige weiße Schaumkämme über die blaue Weite.
Schade, dachte Martin, als sich die Dunkelhaarige wieder ihrem Buch zuwandte, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Das let z te Mal hat sie mir zugelächelt.
»Möchten Sie speisen, Signore?« erkundigte sich der Kellner, der unbemerkt herangetreten war. Er lächelte zuvorkommend, schien aber nicht recht bei der Sache zu sein. Martin mußte seine Bestellung zweimal
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