Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
1. Der Auftakt
------- MEISTER RUDOLPH ------
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Der Auferstandene Christus war noch als Rohling in den Schraubstock eingespannt. Der Bildhauer machte sich daran, das bekrönende Stück des Altares in Arbeit zu nehmen. Der neue Scarheimer Altar würde das aufwändigste und zugleich vollkommenste Bildwerk seines gesamten Schaffens sein.
Die geschickten Hände des Meisters verliehen dem Kopf des Auferstandenen eine schmale, edle Silhouette. Der gesamte Körper der Skulptur war länglich und zierlich, die Hände schlank und die Finger sollten noch feingliedrig herausgearbeitet werden. In der Phantasie von Meister Rudolph entstand ein perfektes Bild seines fertig gestellten Werkes. Ein Werk, auf das er stolz sein konnte.
Ohne anzuklopfen wurde die Tür der Werkstatt geöffnet und der Scarheimer Pfarrer betrat heute schon zum zweiten Mal den Raum. Es war gerade erst zehn Uhr morgens.
„Guten Morgen, Meister Rudolph“, sagte der Geistliche. Er schien ganz vergessen zu haben, dass er vor gerade zwei Stunden schon einmal einen guten Morgen gewünscht hatte.
„Pfarrer, was kann ich jetzt wieder für Sie tun?“ fragte Meister Rudolph ohne sich von seiner Werkbank zu erheben. Die dauernde Kontrolle und die viele Fragerei empfand der Bildhauer als sehr störend, weil er sich vollständig auf seine Arbeit konzentrieren wollte.
Hinter dem Pfarrer betrat Robert Adlam die Werkstatt. Nun sah Meister Rudolph endlich einen Anlass, das Werkzeug aus der Hand zu legen und die Werkbank zu verlassen, um dem jungen Mann die Hand zu schütteln, der den Altar so großzügig finanzierte.
„Guten Morgen, Herr Adlam. Sie wollen sich etwas umsehen? Die Arbeit geht großartig voran. Sie werden erstaunt sein, was wir inzwischen alles geschafft haben!“ sagte er mit etwas überfreundlichem Lächeln und machte eine Geste in die Runde, auf die bereitstehenden Skulpturen und Architekturteile. Herr Adlam begrüßte den Meister mit einem Handschlag und ließ sich zu den fertig gestellten Altarteilen führen. Er besah sich interessiert einen Kinderengel, der an einer bereits fertiggestellten Säule auf einer Weinrebe saß und eine Traube zum Mund führte.
„Der Engel sieht Ihrem kleinen Enkel sehr ähnlich. Der kleinste Rudolph der Familie, nicht wahr?“ sagte er mit einem Schmunzeln auf den Lippen und blickte den Bildhauer nun direkt an.
„Ja, das ist der kleine Rudolph“, sagte der Meister stolz. Er hätte niemals gedacht, dass irgendjemand sich diesen winzigen Engel so genau ansehen würde, um die Ähnlichkeit mit seinem Enkel festzustellen. Die Putte sollte eine versteckte Verewigung des runden, schlauen Kindergesichtes sein, das der stolze Großvater so sehr liebte. „Portraits sind eine Spezialität von mir“, fügte Meister Rudolph hinzu. „Ich habe die Gesichter der Stifter aller Altäre und Kanzeln, die je durch meine Hände entstanden sind, in Portraits an den jeweiligen Werken festgehalten. Als kniende Heilige, oder betende Engel, ganz egal.“
Herr Adlam nickte. „Ja, wir haben bereits darüber geredet. Meine Meinung hat sich aber inzwischen nicht geändert. Ich möchte weder ein hölzerner Engel, noch ein Heiliger auf diesem Altar sein. Das Ziel ist es schließlich nicht, ein Denkmal für mich zu errichten.“
Der Pfarrer nickte beipflichtend und wandte den Blick zur Zimmerdecke.
„Ehre sei Gott, und nur Gott allein.“
Auf Robert Adlams Gesicht erschien bei diesem Ausbruch von Frömmigkeit ein flüchtiges Lächeln, das Meister Rudolph nicht ohne Sympathie zur Kenntnis nahm. Der Bildhauer war zwar ein religiöser Mann, ein Katholik mit ganzem Herzen, wie er gerne über sich selbst sagte. Jedoch war gerade der Scarheimer Pfarrer jemand, der es gern mit der Frömmigkeit übertrieb, sodass sie oft recht aufgesetzt wirkte.
Herr Adlam sah sich weiter in der Werkstatt um. Er war lange nicht mehr bei Meister Rudolph gewesen, um seine Arbeit zu begutachten. Der Bildhauer fühlte sich durch das Vertrauen geehrt, das in ihn gesetzt wurde. Und er bemerkte auch, dass der junge Geldgeber sichtlich zufrieden war, mit dem, was er heute zu sehen bekam.
„Die Volutenwerke sind nicht von Ihrer Hand“, meinte Robert Adlam und berührte vorsichtig die detaillierten Holzornamente, die an der zweiten Werkbank in Arbeit waren. „Ihr Geselle arbeitet sehr gut, aber nicht so, wie der Meister.“
„Philip ist noch jung“, antwortete Rudolph, erstaunt, dass Herr Adlam als Laie den feinen Unterschied zwischen ihren Arbeiten so
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