Die Schattenfrau
wollen?«
»Aber gewiss«, sagte Winter. Sollte er seine Hilfe anbieten? Er wusste zwar nicht, wie man ein Kind anzog, aber einen Stiefel würde man doch wohl anbekommen... Eine Frau, die Ernst Lundgren merkwürdig ähnlich sah, mühte sich ab, einen weichen Gummistiefel über einen kleinen Fuß zu ziehen. Es schien furchtbar schwierig zu sein. Schließlich gab die Frau auf und ließ das Kind hinaus mit nur einem Stiefel. Im Treppenhaus hinter Winter machte sie einen neuen Versuch, der, wie er beobachtete, auch glückte.
Ernst Lundgren sah ihn an. »Dauert 'ne Weile«, sagte er. »Ja, das habe ich bemerkt.«
»Haben Sie selbst Kinder?«
»Nein«, antwortete Winter und wich einer Reihe von Dreikäsehochs aus, die zu dritt nebeneinander durch die Tür wollten.
»Wir konnten einfach nicht mehr mit ansehen, wie anstrengend es für sie war«, erzählte Ernst Lundgren. »Also für die jungen Mütter.«
Winter nickte. Sie saßen in der Küche. Durchs Fenster konnte er den kleinen Trupp über den Weg in den Wald wandern sehen. Es mochten zehn Kinder und vier Erwachsene sein.
»Hier wohnen viele allein Stehende mit kleinen Kindern«, fuhr Lundgren fort. »Sie haben keine Arbeit, keine Kinderbetreuung und auch kaum Bekannte. Viele sind wie gefangen in ihrer Einsamkeit, gehen nie aus.«
Winter nickte wieder.
»Das ist gefährlich«, sagte der Leiter der Tagesstätte. »Kein Mensch wird auf Dauer damit fertig.«
»Wie lange betreiben Sie die Tagesstätte schon?«, fragte Winter.
»Seit ungefähr einem Jahr. Mal sehen, wie lange wir noch weitermachen dürfen. Es ist keine Tagesstätte in dem Sinn, wie die Behörden das Wort verstehen.«
»Was ist es dann?«
»Es ist der Versuch einiger alter Menschen, den Jungen und Verzweifelten zu helfen, wenn Sie meine Meinung hören wollen.« Ernst Lundgren deutete auf die Kaffeemaschine. »Möchten Sie eine Tasse?«
Winter nahm dankend an. Ernst Lundgren stand auf und schenkte sich und Winter Kaffee ein, dann setzte er sich wieder. »Einige dieser armen Frauen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Sie brauchen jemanden, wo sie ihre Sorgen...
Tja, in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks darf ich sagen: einen Ort, wo sie ihre Sorgen abladen dürfen. Wir versuchen, ihnen diesen Ort zu bieten.«
»Mhm.«
»Das heißt, eine junge Mama kann für ein paar Stunden ihr Kind bei uns abliefern, um zum Friseur oder in die Stadt zu gehen. Ein paar Stunden für sich zu haben. Oder sich einfach nur zu Hause auszuruhen.«
»Ja«, sagte Winter. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«
»Einmal in der Woche eine Weile für sich zu sein«, ergänzte Ernst Lundgren. »Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, nie für sich zu sein?«
»Nein«, gab Winter zu. »Ich kenne eher das Gegenteil.«
»Was meinen Sie?«
»Das Gegenteil. Dass ich zu viel für mich bin.«
»Aha. Aber sehen Sie, das ist auch ein Problem dieser jungen Frauen. Sie haben keinen Umgang mit anderen Erwachsenen.« Ernst Lundgren krempelte den einen Ärmel seines Khakihemds hoch, und Winter sah, dass das Haar seinen Arm bedeckte wie weißes Moos, das bis hinunter auf die mittleren Fingerglieder wuchs. »Einige haben dazu gleich mehrere Kinder.«
»Sind es viele, die hierher kommen?«
»Es sind schon einige, aber mehr würden wir nicht schaffen können. Dazu bräuchten wir eine größere Wohnung und mehr Leute, aber es ist ohnehin eine Einrichtung, die gerade so geduldet wird. Die Behörden sehen in uns eher Piraten. Sollen sie!«
»Sie tun ein gutes Werk«, sagte Winter.
»Nun, ein bisschen was kann man wohl noch tun, bevor man stirbt. Mir macht es Spaß. Es ist das Beste, was ich seit langem getan habe.«
»Gibt es mehr Leute wie Sie in der Gegend?«
»Nein. Ich habe gehört, dass ein paar Senioren oben in Gärdsten über eine ähnliche Sache nachdenken. Oder war es in Rannebergen... «
Winter nahm einen Schluck aus der Tasse. Der Kaffee war noch warm.
»Es wird eine Menge Mist über die Außenbezirke der Stadt geredet, aber eines ist wahr«, meinte Ernst Lundgren. »Es gibt sehr viel Einsamkeit in diesen Vierteln. Die Schwachen und Einsamen werden an den Rand gedrängt. Merkwürdig. Es gibt hier Einwandererfamilien, die noch richtig zusammenhalten, auch wenn es manchmal ziemlich exzessive Formen annehmen kann. Trotzdem. Aber mitten unter ihnen wohnen diese jungen schwedischen Mütter mit ihren kleinen Kindern. Fast nie junge Männer. Nur Frauen und ihre Kinder. Eine merkwürdige
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