Die Schattenfrau
sie wieder angerufen hatte, konnte er nicht auflegen. Und nun war es schon das zweite Mal, dass er sie abholte. Komm allein, hatte er gebeten. Sie hatte nein gesagt. Und später, als Antwort auf eine Frage von ihr hatte er nein, nein, NEIN, geantwortet. Wer hat das behauptet?, hatte er von ihr wissen wollen. Sie hatte ihn angesehen, mit einem Blick, den er von sich kannte. Ein Blick, aus dem der Wahnsinn sprach. Er hatte dagestanden wie gelähmt von der schrecklichen Angst vor dem, was geschehen würde. Er hatte zur Decke geblickt, gehofft... Gehofft, dass es einen Ausweg gab. Den hatte es die ganze Zeit gegeben. Eine letzte Möglichkeit. Nur die Angst hatte ihn davon abgehalten.
Über ihnen schrie etwas. Sie war allein. Es war das zweite Mal, dass sie allein zu ihm kam. Er hatte keine Ahnung, ob sie... alles wusste. Sie waren hinunter durch das Gehölz zu der nächsten Lichtung gegangen. Die Tiere waren vor ihnen zwischen den Bäumen weggesprungen. Sie hatte ihn angeschaut, aber er hatte ihr nicht in die Augen blicken wollen. Er hatte einen Ruf gehört, einen Ruf von weither. Plötzlich wünschte er, das Kind wäre da. Das nächste Mal wollte sie das Kind mitbringen.
Der Schweiß rann ihm in die Augen und machte ihn blind. Auf der Straße war kein Auto zu hören. Es wurde nie richtig dunkel. Er versuchte, sich den Schweiß abzuwischen. Doch ihre Arme blie...
Als er sich umdrehte, bemerkte er ein weißes Boot auf der Wasserfläche. Es schien zu schweben, lautlos. Als warte es. Ihm war, als sähe sie sich danach um, den Kopf zur Seite gewandt. Das Boot lag still, gefangen im Dunst der späten Nacht. Er konnte niemanden im Boot sehen. Er schaute nach unten, auf den Boden. Und als er sich wieder umwandte, war die Wasserfläche leer und schwarz.
34
Die Wohnung befand sich in einem Haus mit Blick auf Svarte mosse. Draußen verriet nichts, dass es hier eine private Tagesstätte gab. Drei Zimmer mit Küche.
Die Häuser duckten sich längs der Flygvädersgatan. Hinter dem Wasserlauf nördlich des Sjumilastigen setzte sich die Natur endlos fort. Die Häuser bildeten die westliche Grenze von Norra Biskopsgärden. Die Stille schien greifbar. Wie ein Lied vom Herbst, das über den Feldern lag.
Winter verglich die Architektur mit etwas wie gefrorener Musik. Erstarrte Akkorde, die eine strenge Schönheit in ihren Wänden trugen, aber in sich alles gefangen hielten. Die Natur war nah, aber sie gehörte nicht zu den Häusern.
Karin Sohlberg hatte ihm den Weg beschrieben, wollte ihn aber nicht begleiten. Winter klingelte im Erdgeschoss bei der linken Wohnung auf diesem Treppenabsatz. Die Tür war mit Kinderzeichnungen bedeckt, die kreisförmig um das Wort »Altes Dorf« angeordnet waren. Die Tür wurde von einem Mann geöffnet, der siebzig sein konnte oder achtzig. Er trug ein braunes Khakihemd und darüber breite Hosenträger, die an einer großen und bequem wirkenden grauen Hose befestigt waren. Er hatte einen weißen Schnurrbart und dichtes weißes Haar, und Winter fühlte sich an einen Kobold erinnert, der sich den Bart ums Kinn abrasiert hatte und in die Welt der Menschen gekommen war, um zu bleiben. An der Hand hielt der Mann einen kleinen Jungen, der am Daumen lutschte und den langhaarigen blonden Polizisten in der schwarzen Lederjacke mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
»Guten Tag«, grüßte Winter und bückte sich ein Stück zu dem Jungen, der zu weinen anfing.
»Aber, aber, Timmy«, beruhigte ihn der Weißhaarige. Der Junge verstummte und versteckte sein Gesicht am Hosenbein des Mannes. Der Junge hatte eine gelbe Pudelmütze schräg auf dem Kopf.
»Ja, guten Tag also«, wiederholte Winter und reichte dem Mann die Hand. Er stellte sich und sein Anliegen vor. Die Suche nach einer Vermissten. Zwei Vermissten, schoss es ihm durch den Kopf: ein Kind und ein Mörder.
»Ernst Lundgren«, stellte sich der Mann vor. Er war groß, hielt sich aber leicht gebeugt.
Als junger Mann muss er an die zwei Meter gewesen sein, dachte Winter beeindruckt.
»Können wir uns ein Weilchen unterhalten?«, fragte Winter.
Ernst Lundgren drehte sich um. Winter hatte Stimmen von Kindern und Erwachsenen gehört, und jetzt sah er, dass mehrere ältere Leute dabei waren, kleinen Kindern in ihre Mäntel zu helfen. Der Boden war mit Jacken und Mützen übersät.
»Wir sind auf dem Weg nach draußen, wie Sie sehen«, erklärte Ernst Lundgren. »In so ungefähr zehn Minuten wird es hier etwas friedlicher zugehen. Wenn Sie so lange warten
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