Die Schattenfrau
Kindern. Plötzlich stand Angelas Gesicht vor seinem inneren Auge.
Winter stand noch immer in der Küche. Im Keller könnte es noch mehr geben. Helene Andersen hatte einen Kellerraum ohne Wohnungsnummer oder Namen. Das war nicht ungewöhnlich. Nach einer Weile hatten sie ihn gefunden. Er war mit einem kleinen Vorhängeschloss abgesperrt. Sie hatten keine Schlüssel gefunden. Aber derjenige, der in Helenes Wohnung gewesen war, hatte nichts von dem Kellerraum gewusst - oder sich nicht hineingewagt. Darin hatten sie einige Kisten mit Kleidern, ein Paar Kinderski und einen Stuhl entdeckt.
32
Als sie lauschte, war es, als säße derselbe Kuckuck im Wald und riefe nach ihr. Das geschah ein paarmal am Tag. Gestern auch. Schuhuu, Schuhuu, klang es wie von weit her, von jenseits der Bäume.
Ihr Haar war nass und ihre Sachen auch. Sie hatte das Kleid unter sich gelegt wie ein Laken. Es war ganz nass geworden. Manchmal fror sie und zog es wieder an, über die Hose und das Unterhemd. Aber dann wurde es ihr zu heiß, und sie zog es aus. Sie glaubte, sie würden ihr das Kleid wegnehmen, aber sie durfte es behalten. Die Männer kamen und betrachteten sie, wenn die beiden glaubten, sie schliefe. Aber sie war wach, obwohl es fast war wie schlafen. Ihr war die ganze Zeit schwindelig, und sie hatte eine Gänsehaut am Körper, wie wenn man im Freien gebadet hat und herauskommt, und der Wind einen abkühlt, bevor man das Handtuch um hat.
Der Mann, der immer kam, trat neben sie. Er hatte Tabletten dabei, die sie schlucken sollte, aber sie schaffte es nicht.
Er rief den anderen. »Sie schluckt sie nicht runter.«
»Sag ihr, sie muss.«
»Das hilft nicht.«
»Dann zerdrück die Tabletten.«
»Was?«
»Zerdrück die Tabletten in Wasser, dann kriegt die Kleine sie leichter runter. Oder tu das Pulver mit Zucker und warmem Wasser in die Tasse.«
»Ob sie sie dann nimmt?«
»Probier's doch aus.«
Der Mann hatte sich vorgebeugt und wieder die Hand auf ihre Stirn gelegt. »Sie fühlt sich nicht mehr so heiß an.«
»Dann ist es vielleicht nicht nötig.«
»Was denn?«
»Die Tabletten, verdammt noch mal.«
»Ich glaube, sie sind nötig.«
»Dann mach, wie ich es gesagt habe.«
Sie hatte tapfer versucht zu schlucken, als er mit dem Glas Wasser kam, das schlecht schmeckte. Sie döste ein und lauschte den Geräuschen von draußen. Ein Donnern oder Brummen, und dann war es weg, und sie lauschte dem Kuckuck, der geschwiegen hatte, als das Brummen gekommen war. Sie wartete auf den Kuckuck. Vielleicht war er immer da.
Sie dachte, ich werde nicht lange hier sein. Ich werde zu Hause sein in meinem neuen Zimmer, und dort steht Helene an der Tür. Ich heiße Helene, und die Männer haben mich nie so genannt, deshalb muss ich es selbst sagen. Sie flüsterte, und es tat im Hals weh, aber sie flüsterte noch einmal Helene, und dann wurde es heller und rot vor ihren Augen, und da glaubte sie, dass sie den Kuckuck wieder hörte.
II. TEIL
33
Er lauschte auf die Geräusche des Waldes, aber sie hörten sich nicht mehr wie früher an. Nichts war mehr geblieben von der Ruhe, die hier früher geherrscht hatte. Kaum, dass er noch den Wind hörte.
Sie war aus der Vergangenheit aufgetaucht wie ein Gruß des Teufels. Beim ersten Telefongespräch hatte er noch abgewehrt: Sie haben die falsche Nummer, Fräulein. Sie müssen woanders anrufen.
Diese Stimme. Eine lang zurückliegende Erinnerung, etwas, das es nicht mehr geben sollte. Das nicht gehört werden sollte.
Er hatte alles getan, was er konnte, um zu vergessen. Alle, die darüber reden könnten, waren fort.
Danach, ihre Stimme noch im Ohr, hatte er auf seine Hände geblickt. Mit ihnen hatte er... Hatte er... Er hatte die Augen geschlossen, und die Tage des Teufels waren wieder da in seinem Innern. Das Haus. Der Wind vom Meer, der durch diese verdammte Bude geradewegs hindurchblies. Und der Mann, der... Er hatte nur getan, wozu er gezwungen gewesen war. Er hatte es geplant, aber immer noch glaubte er, es würde nicht nötig sein... Aber dann hatte er begriffen, dass er es tun musste. Seine Hände hatten es getan.
Er saß im Auto und fuhr zwischen Bäumen hindurch. Kein Lichtstrahl drang durch die Wipfel. Es regnete, und dieser Teil des Himmels war kurze Zeit für den Luftverkehr gesperrt. Er war auf dem Weg zur Bushaltestelle, um sie abzuholen. Es war nicht die nächstgelegene Haltestelle, aber sie verstand schon, warum. Hatte sie es nicht sogar selbst vorgeschlagen?
Er hatte jetzt Angst. Als
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