Die Schattenfrau
Geräusche im Haus, Michael Brecker blies Tales from the Hudson. Die Töne des Tenorsaxophons schienen vor Kälte einzufrieren in Naket Soul. Nackte Seele. Winter hatte Helenes Gesicht vor Augen, ihren Körper. Ihre Seele hatte den Körper verlassen. Es war für ihn jetzt nicht anders als damals, er konnte an denselben Namen denken. Woher hatte er es gewusst? Wie hatte sie es ihm mitgeteilt?
Er nahm die oberste Kinderzeichnung von dem Stapel auf seinem Schreibtisch. Dem Bild fehlte der Himmel. Es zeigte eine Person, die ein Kind mit nach oben gestreckten Armen sein konnte. Es gab keinen Boden. Die Gestalt schwebte in der Luft.
Winter betrachtete das nächste Bild. Die Sonne schien am linken Rand, und rechts regnete es. Im selben Augenblick prasselte Regen an sein Fenster und ein Windhauch griff nach den Bildern auf dem Tisch.
Winter erhob sich, ging zum Fenster und schloss es. Mit der Zeichnung in der Hand ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen. In der Bildmitte fuhr ein Auto über einen Weg, der zwischen Bäumen verlief. Es waren keine Gesichter hinter den Autofenstern, weil das Auto gar keine Fenster hatte. Es hatte auch keine Farbe, es war weiß wie das Papier. Die Bäume waren grün und der Weg braun. Auch auf dem nächsten Bild war ein Auto. Es stand diesmal zwischen Häusern, die wie hohe Klötze gemalt waren, mit unregelmäßigen Vierecken als Fenster. Die Straße war schwarz.
Winter blätterte die Zeichnungen durch, bis er noch eine mit einem Auto als Motiv fand. Diesmal fuhr es einen braunen Weg entlang. Fünf Zeichnungen weiter stand das Auto auf einem schwarzen Weg. Die Autos waren nie ausgemalt, sondern alle weiß wie das Papier. Auf einer Zeichnung blickte eine Person mit rotem Haar aus einem der Wagenfenster. Kein Auto hatte einen Fahrer.
Winter prüfte, ob irgendwo Buchstaben oder Ziffern auf den Autos standen. Aber das Mädchen hatte immer nur ihren Namen geschrieben: »jeni«. Konnte Jennie einen Buchstaben oder eine Ziffer wieder erkennen und abmalen? Es gab doch auch Fünfjährige, die schon fließend lesen und schreiben konnten?
Er schloss die Augen. Die Musik unterstützte sein Denken, seine Konzentration.
Nach einer Weile öffnete er die Augen und legte die Zeichnungen mit den Autos auf die rechte Seite. Es gab Bilder mit anderen Fahrzeugen. Auf einigen tauchte etwas auf, das eine Straßenbahn sein konnte. Die Wagen waren lang, mit Fenstern, wie sie die Hochhäuser hatten, die er zuvor angesehen hatte. Eine Zeichnung zeigte etwas, das eine Straßenbahn von vorn sein konnte. Ganz oben war die Ziffer 2 gemalt, über einem großen Fenster.
Winter legte die Zeichnung neben sich und blätterte den Stapel nach weiteren Bildern von Straßenbahnen durch. Zehn Zeichnungen später fand er eine. Sie hatte keine Zahl. Und da war nochmals die Ziffer 2 auf einen Wagen gemalt, aber diesmal auf die Fahrzeugseite. Ein Gesicht mit rotem Haar war an einem der Fenster zu sehen. Augen, Nase, Mund.
Winter blickte auf die Uhr. Er griff nach dem rosa Teil des Telefonbuchs und schlug die Nummer der Verkehrsauskunft nach. Die Filiale am Drottningtorget war noch geöffnet. Winter rief an. Eine Frau meldete sich. Winter erkundigte sich nach der Strecke der Linie 2, notierte sich die Antwort und legte auf.
Es passte. Die Linie führte am Norra Biskopsgärden vorbei. Offensichtlich waren Helene und ihre Tochter mit ihr gefahren. Vielleicht täglich. Oder mit der 5. Er hatte gefragt, ob noch andere Linien dort entlangführten. Vielleicht fände er eine 5 unter den Zeichnungen. Winter merkte, dass er zu schwitzen begonnen hatte. Er stand auf, ging zur Toilette, ohne Licht zu machen, und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Er blickte in den Spiegel. In dem Licht, das durch die offene Tür vom Flur hereinfiel, war sein Gesicht ein dunkles Oval. Er trocknete sich flüchtig mit einem Papierhandtuch die Stirn und kehrte in sein Zimmer zurück. Die Zeichnungen lagen auf dem Tisch, und er würde weiter die Spuren eines Lebens in ihnen suchen.
Das Telefon läutete. Winter hob ab und grüßte: »Winter.«
»Hier ist Beier. Ich dachte mir schon, dass du noch da sein würdest.«
»Und wo bist du gerade?«
»Na, auch noch hier, selbstverständlich. Ich habe etwas, das du dir vielleicht ansehen möchtest.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht genau. Sieht aus wie ein uralter Zettel. Vielleicht hundert Jahre? Jedenfalls ziemlich alt.«
»Einen Zettel?«
»Einen Zettel, auf dem etwas geschrieben steht. Wir haben doch
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