Die Schattenfrau
Bootsbesitzer im Umkreis festgestellt zu haben, aber sicher konnte man sich bei so was nie sein. Hatten Helene Andersen und ihre Tochter Zugang zu einem Boot gehabt? Warum hatte das Mädchen ein Schiff gemalt oder ein Boot? Es gab noch mehr solcher Zeichnungen an der Wand über ihrem Bett. Als Beiers Männer die Wohnung durchsucht hatten, waren sie auf einige dieser Zeichnungen gestoßen, die alle von einem Kind zu stammen schienen. Die Blätter hatten eine große Papiertasche gefüllt.
Winter öffnete die Wohnungstür und trat in den Flur. Es war jemand nach Helenes Tod hier gewesen. Dieser Jemand musste nach etwas gesucht haben. Winter dachte an ihn als einen »er«. Hatte er nur die Mietunterlagen haben wollen? Wusste er, wo er sie finden könnte? Sie hatten keine persönlichen Briefe gefunden. Das war keine Überraschung, da Helene Andersen offensichtlich niemanden auf der Welt hatte, der nach ihrem Verschwinden nach ihrem Verbleib geforscht hätte. Auch nach ihrer Tochter hatte niemand gefragt. Das war für Winter eine noch schmerzlichere Erkenntnis. Wie groß konnte Einsamkeit sein? Wie konnten eine Mutter und ihre kleine Tochter verschwinden, ohne dass jemand sie vermisste? Wie nur war das möglich? Winter trug den Gedanken mit sich durch die Wohnung, in der es nach stummer Trauer roch.
Der Mord war nicht hier, in der Wohnung, begangen worden. Wo hatte er stattgefunden? In der Nähe des Fundorts? Es war ein ganz schön langer Weg von den nordwestlichen Stadtteilen zum Delsjön im Osten, eine Gegend, wo die städtische Bebauung langsam aufhörte. Hatte sie diese viele Kilometer lange Fahrt allein gemacht? War sie da schon tot gewesen? Das war möglich. Oder fuhr sie oft dorthin, allein oder mit ihrem Kind? Sie hatten angefangen, sich bei der städtischen Verkehrsgesellschaft umzuhören: Straßenbahnen, Busse, reguläre und schwarze Taxis. Würde jemand in irgendeinem Fahrzeug sie wieder erkennen? War sie oft mit ihrem Kind unterwegs gewesen? Wo war das Kind sonst, wenn Helene etwas alleine unternahm? Falls sie das je getan hatte. Auf ihren Namen war kein Auto zugelassen.
Winter verharrte in der Küche. Er hörte das Gurren der Tauben vor dem Fenster. Eine Kinderzeichnung wurde von einem Magneten, der ein Segelboot vorstellte, an der Kühlschranktür festgehalten. Die Techniker hatten sie hängen lassen, und Winter wunderte sich, warum. Vielleicht waren sie mit der Küche noch nicht fertig.
Das Bild zeigte ein Auto. Ein Gesicht schaute aus je einem der Fenster vorn und hinten. Das Auto war weiß. Wieder regnete es nur vom halben Himmel, und auf der anderen Hälfte schien die Sonne. Winter hatte sich das Bild nur flüchtig angesehen, als er zum ersten Mal in der Wohnung war. Am Vortag. War das erst einen Tag her? Nun sah er, dass das Gesicht vorn im Profil gemalt war und dass am Kinn ein Bart klebte. Wie ein Ziegenbart.
Mein Gott! Winter bekam vor Aufregung einen ganz roten Kopf. Er betrachtete das Gesicht genauer. Eine Nase. Einen schwarzen Bart, der vom Kinn wegstrebte. Auf dem Kopf trug der Mann eine Mütze.
Das Gesicht im hinteren Fenster hatte rotes Haar. Zöpfe.
Ein Mann mit Bart lenkt ein Auto, in dem das Mädchen mitfährt, schloss er. Er musste sich unbedingt sämtliche Bilder ansehen, die die Techniker mitgenommen hatten. Lieber Gott! Das Mädchen hatte alles gemalt, was es gesehen hatte. Manche Kinder malen mehr als andere. Sie malen, was sie erleben, weil sie es nicht aufschreiben können. Jennies Bilder sind ihr Tagebuch, dachte er. Wir haben ihr Tagebuch.
Ihm war noch immer heiß im Gesicht. Er musste Ruhe bewahren. Dies war nur eine Spur unter vielen. Vielleicht nicht einmal eine Spur. Und doch war er erregt. »Er« war jedenfalls nicht wegen der Kinderzeichnungen hergekommen. An so was denkt man nicht auf Anhieb. Vor allem dann nicht, wenn man weiß, dass Kinder malen, und man nicht verraten will, dass man in der Wohnung gewesen war - die ohne diese Kinderzeichnungen... nackt aussehen würde.
Er hat zugesehen, wie Jennie malt, überlegte Winter. Er kennt das Mädchen. Kennt diese kleine Familie. Immer mit der Ruhe, Winter. Denk daran, was Sture über deinen Ehrgeiz gesagt hat. Der mit dem Bart kann jemand anders sein. Ein... Freund. Oder ein Taxifahrer. Ein beliebiger Mann aus der Phantasie. Ich muss die Zeichnungen durchsehen, eine nach der andern. Wie viele waren es?
Fünfhundert? Ist das normal, dass man so viele aufhebt? Woher soll ich das wissen, dachte er, ich weiß nichts von
Weitere Kostenlose Bücher