Die Schattenfrau
im Blick. Die Kamera also war auch auf ihn selbst gerichtet, was bedeutete, dass er auf dem Band dort eingefangen war: Er und andere Autofahrer, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren, wurden aufgenommen, auch wenn die Aktion gar nicht ihnen galt.
Winter fuhr den Delsjömotet hoch und bog auf dem Hügel rechts ab und kam auf dem Boräsleden am Erholungsgebiet vorbei. Die große Hitze hielt die Leute fern. Kein Mensch war auf dem Parkplatz oder auf den Rasenflächen.
Er wollte gerade einbiegen zu der Stelle, wo man die Frau gefunden hatte, als er beschloss, auf der alten Straße, dem Gamla Boräsvägen, weiterzufahren, die längs dem neuen Boräsleden -, der Schnellstraße, verlief. Nach der Unterführung galoppierten auf den Feldern links Reitpferde, und Winter kam an zwei Höfen vorbei. Einen knappen Kilometer weiter erreichte er wieder eine Kreuzung. Er blinkte und hielt auf dem Park- und Bushalteplatz rechts am Straßenrand. Winter stieg aus, zündete sich einen Zigarillo an und lehnte sich ans Auto.
Er musste an den Polizisten mit der Videokamera denken. Dort könnte er ansetzen: Hatte die Verkehrspolizei nicht schon seit einiger Zeit Nachtstreifen eingesetzt? Mit Kameras, die im Dunkeln sahen. Ein Test mit Infrarot-Kameras? Er glaubte, etwas darüber in Group Wise gesehen und eine Mitteilung im EMail-System der Polizei gelesen zu haben.
Waren sie auch letzte Nacht unterwegs gewesen? War dieser Test nicht sogar auf die östlichen Stadtteile und Ausfallstraßen beschränkt gewesen?
In der besten aller Welten würde sich einer der Männer von der Verkehrsüberwachung bei Winter melden, wenn eine Streife während der letzten 24 Stunden in der Nähe des Fundorts gewesen war. Aber es brauchte seine Zeit, bis die interne Kommunikation in Gang kam, manchmal Tage. Fehler und Missverständnisse zu Beginn einer Ermittlung waren mitunter schwer wieder gutzumachen, aber sie traten natürlich auf. Ziemlich oft. Polizisten sind eben auch nur Menschen, dachte Winter. Und die Neuorganisation von 1995 hatte auch einem unglücklichen Revierdenken in den einzelnen Polizeibezirken Vorschub geleistet.
Winter nahm das Telefon von der Halterung am Armaturenbrett und wählte die Nummer der Verkehrsüberwachung. Er stellte sich dem Diensthabenden vor und bat, mit dem leitenden Kommissar der Abteilung verbunden zu werden.
»Walter Kronvall ist beschäftigt.«
»Wie lange wohl?«
Winter konnte fast den Stoßseufzer am anderen Ende hören: Warum kann der nicht woanders anrufen? »Wie lange wohl, habe ich gefragt.« »Wie war der Name?«
»Kommissar Erik Winter. Ich bin stellvertretender Leiter des Fahndungsdezernats.«
»Geht es nicht auch mit einem andern?«
»Wie bitte?« »Walter ist be... «
»Wir ermitteln hier in einem Mordfall, und es ist sehr wichtig, dass ich Walter Kronvall sprechen kann.«
»Okay, okay, einen Moment«, sagte die Männerstimme, und Winter wartete. Ein Flugzeug flog im Anflug auf Landvetter über ihm vorbei. Es schwebte lautlos im Blau. Winter hörte das Dröhnen der Motoren erst, als das Flugzeug aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er sah... das musste ein Hirsch sein, der den Kopf hob am Waldrand hundert Meter weit weg, hinter dem Pferdegatter. Die Farbe des Fells verschmolz mit der des sonnenverbrannten Grases. Als das Wildtier davoneilte, sah es fast aus, als ginge ein Windhauch durch die Felder.
Winter lauschte den Grillen und dem Lärm eines weiteren Flugzeugs am leeren Himmel. Er wartete. Der Zigarillo in seiner Hand war längst ausgegangen.
»Ja, hier Kronvall.« »Erik Winter.« »Ich war beschäftigt.« »Das bist du noch.« »Was?«
»Du bist noch beschäftigt, aber jetzt mit diesem Gespräch hier, Walter. Aber ich will mich kurz fassen. Ich muss wissen, ob ihr heute Nacht draußen am Boräsleden Kameras installiert hattet, in der Gegend beim Delsjömotet. Am frühen Morgen. Als es noch dunkel war.«
»Geschwindigkeitskontrolle?« »Das weißt du besser als ich.« »Worum geht es?«
»Hast du noch nicht von dem Mord gehört? Wir haben heute Morgen eine tote Frau gefunden. Erwürgt... «
»Klar weiß ich davon. Trotz der Kommunikationswege hier im Haus, muss man wohl sagen.«
Winter wartete auf die Fortsetzung. Schweiß lief ihm in die Augen und die Wange hinunter, gegen die er das Telefon gedrückt hielt. Er rückte in den Schatten und wischte sich mit dem rechten Handrücken über die Stirn.
»Und du willst wissen, ob wir in der Nähe gefilmt haben? Im Dunkeln?
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