Die Schattenfrau
vorbeigingen. Wenn man im Erdgeschoss wohnte, fielen einem solche Dinge auf.
Einige Male in der vergangenen Woche hatte sie geglaubt, das Mädchen gesehen zu haben, aber jedes Mal war es ein anderes gewesen. Sie wusste nicht, wie seine Stimme klang. Sie hatte auch die Mutter nie etwas zu dem Mädchen sagen hören, obwohl sie das ja getan haben musste.
Die Kleine fehlt mir richtig, dachte sie. Sie müssen weggezogen sein, aber ich habe keinen Möbelwagen gesehen.
23
Sie hatte andere Kleider bekommen, aber sie wollte die Sachen nicht anziehen. Der Mann sagte, sie müsse sich umziehen. Er ging so lange hinaus. Und sie zog die alten Sachen aus, die sie lange angehabt hatte.
Sie hustete. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und auch ihr Körper.
Woher kam das Kleid? Es war nicht eins von ihren, sah aber auch nicht neu aus. Es roch nach nichts Besonderem.
Der Mann war nicht da. Sie hatte den Zettel in der Hand. Sollte sie die Hose ausziehen, weil die Männer nach dem Zettel suchen wollten? Die Alten hatten nichts gesagt. Sie schaute sich um, aber es gab keinen Ort, wo sie den Zettel verstecken konnte. Sie tastete das Kleid ab, und da war eine Tasche an der Innenseite, wo es meistens eine gab, wie sie wusste. Sie hatte schon einmal so ein Kleid gehabt, deshalb wusste sie Bescheid.
Sie zog das Kleid über den Kopf, und wenn sie den Zettel ein wenig faltete, passte er in die Tasche, die sie mit einer Klappe aus Stoff verschließen konnte. Sie klopfte darauf, aber den Zettel spürte man nicht.
Es kam ihr so vor, als wären sie wieder da, wo sie früher gewesen waren. Es war ziemlich dunkel, aber sie glaubte, dass es dasselbe Zimmer war, auch wenn es nicht ganz gleich aussah. Waren die Fenster verrückt worden? Konnte man Fenster wegrücken, wie man einen Tisch oder einen Stuhl wegrückte?
Da draußen war Mama. Sie dachte an Mama, aber es war schwer, dabei nicht traurig zu werden. Sie hatte geweint und sich selbst an den Armen und an der Wange gestreichelt. Sie hatte die Hand vors Gesicht gelegt, den ganzen Arm ums Gesicht, als hielte sie sich selbst, und so hatte sie dagesessen, bis der Mann mit etwas zu essen kam. Sie hatte wieder Angst bekommen und die Arme heruntergenommen.
»Hast du geschlafen?«
Sie wollte sagen, dass sie geschlafen hatte, weil sie glaubte, dass er das hören wollte. Aber als sie zu sprechen versuchte, kam kein Ton heraus, und sie musste es noch einmal probieren, und da ging es. Dann hatte sie gehustet. Sie war still gewesen, und dann hatte sie wieder husten müssen. Sie schwitzte. Es hatte angefangen, kurz bevor der Mann heruntergekommen war, und sie konnte es nicht abstellen. Er guckte sie an, und sie wollte es abstellen. Ihr war warm. Sie hustete wieder. Der Mann guckte sie an. Er kam näher, und sie fuhr ein wenig zusammen.
»Sitz still«, sagte er und fasste sie mit der einen Hand an der Schulter, während er ihr die andere auf die Stirn legte. Er murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Dann sagte er ein hässliches Wort und »Du bist ganz heiß«, und sie hustete wieder. Er rief etwas, und sie hörte eine Antwort.
»Die Kleine hat Fieber!«, rief er wieder.
Es war wieder etwas wie eine Antwort zu hören.
»Ich sage, die Kleine ist krank!«
Sie hörte wieder etwas. Es klang wie ein neues hässliches Wort.
»Ich gebe dir gleich was Warmes zu trinken«, sagte er, aber sie dachte, mir ist doch schon so warm.
Er ging, und sie musste daran denken, dass das neue Kleid etwas nass an den Armen und am Rücken war, weil ihr so warm war. Sie legte sich auf die Matratze, und das war gut. Sie hustete wieder und dann nach einer kleinen Weile noch einmal. Sie machte die Augen zu. Es klang, als käme der Mann zurück, aber sie wollte nicht nachsehen. Da fasste er sie wieder an. Sie wollte nichts sehen. Wollte sich nicht hinsetzen.
»Du musst dich aufsetzen und das hier trinken«, sagte er. Sie wollte nicht, aber er half ihr hoch.
»Du musst trinken, solange es warm ist«, sagte er, und sie machte die Augen auf und schaute in die Tasse. »Dann kannst du dich wieder hinlegen.«
Der Mann roch nach Rauch. Die Männer rochen fast immer nach Rauch.
Sie trank ein wenig, aber ihr tat beim Schlucken der Hals weh. Dann wurde es besser, aber als sie wieder trinken wollte, tat es weh.
»Hast du Schmerzen?« Sie nickte.
»Hast du Halsschmerzen?«
Sie nickte wieder.
»Danach wird es besser«, sagte er.
Sie sagte, dass sie liegen wolle. Er ließ sie los und nahm die Tasse mit. Sie schloss die Augen
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