Die Schattenfrau
Recht und Ordnung: Der Mann hatte bei seiner Ankunft in Schweden aus Furcht, abgewiesen zu werden, einen falschen Namen und eine falsche Nationalität angegeben. Er hatte gelogen. Deshalb sollte er abgeschoben werden.
So stand es in der Presse. Die Tat des Mannes sei ein letzter verzweifelter Versuch. Er drohe, sich und seinen Sohn zu erschießen, wenn seine Familie nicht bleiben durfte. Die Frau und die beiden Töchter warteten unter Hausarrest in einem Flüchtlingsheim in Dalsland. Sie sollten nach Göteborg in Abschiebehaft überstellt werden. Man hoffte auf eine friedliche Lösung. Der Mann sollte vernünftig sein und die Waffe niederlegen. Die Einsatztruppe diskutierte, ob er eine richtige Waffe oder nur eine Wasserpistole hatte. Keiner hatte sie gesehen. Durfte man einen Angriff wagen? Oder war es wirklich gefährlich? Herrschte Lebensgefahr?
Winter stand am Rand der Zuschauermenge.
Es sollte jemand Tribünen zimmern. Eintritt verlangen. Dies ist eine öffentliche Veranstaltung. Zur allgemeinen Unterhaltung. Wir werden schon bald mehr als genug von so was sehen, dachte er. Es wäre doch nicht zu viel verlangt, uns Zuschauern, die wir wissen wollen, wie es weitergeht, ein wenig mehr Komfort zu bieten.
Ihm war bewusst, dass der Mann, der hundert Meter weit weg im Bus saß, zu einer Notlüge gegriffen hatte, um nach Schweden zu kommen. Vielleicht hatte er ja einen Ministerposten und eine Villa mit sieben Zimmern in Diyarbakir oder Täbris hinter sich gelassen, um mit seiner Familie durch Syrien zu vagabundieren, bevor sie auf Kreuzfahrt nach Norden gingen. Vielleicht fiel es der Familie nur schwer zu erklären, warum sie nicht zu dem schönen Fleckchen Erde, das sie verlassen hatten, zurückkehren wollten. Hier gab es jedenfalls keinen Platz, dachte Winter zynisch. Schweden ist viel zu dicht bebaut, die Wälder sind voll von Städten und übervölkerten Dörfern.
Er schloss die Augen und sah einen Wald vor sich. Zwischen Bäumen glitzerte Wasser. Alles war in grünes Licht getauc ht. Er sah einen Weg und jemanden, der den Weg entlangging. Das war er selbst. Er hielt ein Kind an der Hand.
Er öffnete die Augen, und alles war schwarz und weiß. Der Asphalt glänzte schwarz unter seinen Füßen. Und weiß wurde es vor seinen Augen, als er den Blick zum Bus hob. Der stand in der prallen Sonne. Im Innern muss es fünfzig Grad heiß sein, überlegte Winter. Nicht einmal ein Mann, der im heißesten Land der Welt aufgewachsen war, konnte das lange aushalten. Es konnte sich nur noch um Stunden, vielleicht Minuten handeln. Lasst es zu Ende gehen.
Eine kleine Delegation von Unterhändlern bewegte sich auf den Bus zu. Die Leute ringsum wurden still. Ein Hubschrauber dröhnte über ihnen. Winter hörte Reporter von Rundfunk und Fernsehen, die in der Nähe in ihre Mikrofone sprachen. Er bekam live die Ereignisse kommentiert, die er mit eigenen Augen sah. Lebte er in einem Film, oder spielte sich die Wirklichkeit auf dem Bildschirm ab? Nichts geschah, was nicht gleichzeitig beschrieben wurde.
Winter schloss die Augen. Für einen kurzen Augenblick überfiel ihn wieder ein Gefühl des Schwindels, als hätte er einen Bungee-Sprung gewagt. Als schnellte er zurück.
So geht das nicht weiter, dachte er. Ich muss bald mal mit einem Arzt reden. Mit Angela. Oder Lotta.
Ringmar sprach ihn an. Er war herausgekommen, hatte Winter gesehen und sich neben ihn gestellt.
»Bitte?«
»Ich glaube, hier ist bald Schluss«, wiederholte Ringmar.
»Ja.«
Wir haben vielleicht die ausfindig gemacht, die für die Schießerei verantwortlich sind.«
»Das habe ich gehört.«
»Von wem?«
»Birgersson.«
Ringmar lachte. »Der weiß es natürlich als Erster.« »Das ist doch deine... Abteilung, Bertil.« »Ich hatte ihn darüber informiert«, sagte Ringmar. »War es eine interne Abrechnung oder ein Bandenkrieg?«, fragte Winter.
»Kommt drauf an, wie man es sehen will. Der Grund war wohl in etwa der gleiche wie hier: Verzweiflung«, sagte Ringmar. »Wir gehen dem Ende des Jahrhunderts entgegen. Und dem Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen.«
»Aber wir gehen doch auch der Zukunft entgegen«, wandte Winter ein.
»Natürlich.«
»Wir gehen dem Leben entgegen, wohin auch immer wir gehen.«
Winters Handy vibrierte in der Innentasche, als er aus dem Aufzug stieg.
»Ja?«
»Erik. Ich dachte, es wäre... « »Hej, Mutter.«
»Was ist denn da bei euch zu Hause los? Wir haben die Zeitungen hier bekommen, und das klingt ja
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