Die Schattenhand
Besessenheit. Und Mr Symmington war nach allem, was ich über ihn höre, nie ein wirklich guter Mensch – weder besonders gütig oder liebevoll noch einfühlsam. Er war nur gut in dem Sinn, dass er nicht schlecht war, und so gab ihm nichts die innere Kraft, sich gegen seine Besessenheit zu wehren. Und in einer Stadt wie Lymstock war das Problem nur durch den Tod seiner Frau zu lösen. Schließlich wollte er das Mädchen ja heiraten. Sie ist sehr achtbar, und er ist es auch. Und außerdem hängt er sehr an seinen Kindern und wollte nicht auf sie verzichten. Er wollte alles haben, sein Heim, seine Kinder, seine Achtbarkeit und Elsie. Und der Preis, den er dafür zahlen musste, war Mord.
Er hat einen sehr schlauen Weg gewählt, das muss ich sagen. Seine Erfahrung mit Straffällen hatte ihn gelehrt, wie schnell der Ehemann unter Verdacht gerät, wenn eine Frau unerwartet stirbt – und dass es bei Gift auch zur Exhumierung kommen kann. Also hat er einen Todesfall inszeniert, der durch etwas ganz anderes bedingt schien. Er hat einen nichtexistenten Briefeschreiber geschaffen. Und das Raffinierte dabei war, dass die Polizei mit Sicherheit eine Frau verdächtigen würde – womit sie in gewisser Weise ja auch Recht hatte. Es waren tatsächlich Briefe von Frauen; er hat sie sich sehr geschickt zusammengestohlen, aus den Briefen von dem Fall letztes Jahr und einem Fall, von dem er durch Dr. Griffith erfahren hatte. Das soll nicht heißen, dass er so plump war, einen der Briefe wörtlich wiederzugeben, aber er hat einzelne Sätze und Wendungen daraus genommen und sie durcheinander gemischt, mit dem Ergebnis, dass die Briefe eindeutig dem Hirn einer Frau zu entstammen schienen – einer gestörten, verklemmten Frau.
Er kannte all die Kniffe, mit denen die Polizei arbeitet, Schriftanalyse, Schreibmaschinentests und so weiter. Er hat sein Vorhaben von langer Hand vorbereitet. Er hat sämtliche Umschläge beschriftet, bevor er die Schreibmaschine dem Frauenverein vermacht hat, und die Seiten aus dem Buch in Little Moor wird er irgendwann vor langer Zeit herausgeschnitten haben, als er einmal im Wohnzimmer allein war. Predigtsammlungen werden nicht eben häufig konsultiert!
Und schließlich, als seine vorgetäuschte Briefeschreiberin hinreichend eingeführt war, hat er zum eigentlichen Schlag ausgeholt. Er entschied sich für einen sonnigen Nachmittag, an dem das Kindermädchen und die Jungen und seine Stieftochter unterwegs sein würden und die Dienstboten ihren freien Tag hätten. Er konnte nicht vorhersehen, dass die kleine Minnie mit ihrem Liebsten streiten und ins Haus zurückkommen würde.»
«Aber was hat Minnie gesehen?», fragte Joanna. «Wissen Sie das?»
«Wissen nicht. Ich kann nur vermuten. Meine Vermutung ist, dass sie gar nichts gesehen hat.»
«Sie meinen, es war alles nur Geflunker?»
«Nein, nein, meine Liebe, ich meine, dass sie den ganzen Nachmittag am Speisekammerfenster gestanden und gewartet hat, dass ihr junger Mann kommt und sich bei ihr entschuldigt, und dass sie – ganz buchstäblich – nichts gesehen hat. Niemand ist an die Haustür gekommen, weder der Briefträger noch sonst irgendjemand. Da sie schwer von Begriff war, wird es eine Weile gedauert haben, bis ihr aufging, dass das höchst seltsam war – wo doch Mrs Symmington an diesem Nachmittag angeblich einen anonymen Brief erhalten hatte.»
«Ja, hat sie denn keinen erhalten?», fragte ich verwirrt.
«Natürlich nicht! Wie gesagt, dieses Verbrechen ist so simpel. Ihr Mann hat das Zyankali einfach in die oberste der Kapseln geschüttet, die sie nach dem Mittagessen gegen ihren Ischias nahm. Das hieß, er musste lediglich vor oder gleichzeitig mit Elsie Holland nach Hause kommen, nach seiner Frau rufen, keine Antwort erhalten, in ihr Zimmer gehen, eine Prise Zyankali in das Wasserglas schütten, mit dem sie den Inhalt ihrer Kapsel hinuntergespült hatte, den zusammengeknüllten anonymen Brief in den Kamin werfen und einen Fetzen Papier neben ihre Hand legen, auf dem stand: ‹Ich kann nicht mehr.›»
Miss Marple wandte sich an mich.
«Auch darin hatten Sie ganz Recht, Mr Burton. Der ‹Fetzen Papier› war völlig falsch. Selbstmörder hinterlassen ihre Abschiedsbriefe nicht auf kleinen herausgerissenen Papierfetzen. Sie nehmen ein Blatt Papier – sehr oft auch einen Umschlag. Ja, der Fetzen war falsch, und das wussten Sie.»
«Sie überschätzen mich», sagte ich. «Ich habe gar nichts gewusst.»
«Doch, das haben Sie, glauben Sie
Weitere Kostenlose Bücher