Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
Sennar brauchte endlos lange, bis er sich einen Stuhl zurechtgerückt hatte, und als es ihm endlich gelungen war, setzte er sich seinem Enkelsohn gegenüber und schaute ihn wieder nur an.
San fühlte sich unbehaglich. Sennars Blick schweifte über seinen Körper, verweilte jetzt bei seinen ein wenig spitz zulaufenden Ohren, dann bei seinen leicht bläulich schimmernden Haaren und schließlich besonders lange bei seinen Augen.
»Du hast genau die Augen deiner Großmutter«, bemerkte er.
San wusste nicht, was er sagen sollte, und beschränkte sich auf ein vages Nicken. Dabei wäre er am liebsten davongelaufen.
Das ist dein Großvater, ein großer Held. Sag irgendetwas Schlaues. »Hat dein Vater dir von mir erzählt?«
San überlegte, wie er antworten sollte: mit einer barmherzigen Lüge oder der grausamen Wahrheit?
»Keine Sorge, du kannst ganz ehrlich sein. Bei alten Leuten kann man das immer.«
Zwar fühlte sich San ermutigt durch diese Bemerkung, aber noch ermutigender wäre es gewesen, wenn Sennar dabei gelächelt hätte. Aber er tat es nicht. »Nein, er hat mir gesagt, dass Ihr tot seid.« »Du kannst ruhig >du< sagen.« »Wie Ihr wollt.«
Erstaunt wurde sich San bewusst, dass Sennar wohl genauso verlegen war wie er selbst.
»Ich vermisse ihn, San ... So heißt du doch, nicht wahr?« Der Junge nickte. »Ich habe ihn immer vermisst, seit er mich damals, vor so langer Zeit schon, ganz verlassen hat. Und jetzt hatte ich wirklich geglaubt, ihn wiederzusehen. Deshalb bin ich gekommen.«
San war überrascht von den Tränen, die er in Sennars Augen sah. Sie passten genau zu dem Kloß, den er selbst im Hals verspürte.
»Und nun bist du da.«
Sennar lächelte, das erste Lächeln, seit dieses unangenehme Gespräch begonnen hatte. San hätte selbst nicht sagen können, wieso diese Geste noch unerträglicher war als der ganze Rest, mehr als sein forschender Blick, mehr als sein plötzliches Auftauchen, sogar mehr als seine Tränen. Und er merkte, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte und begann heftig zu schluchzen und verachtete sich dabei selbst für seine Schwäche. Er fühlte sich so unendlich allein und dachte daran, dass sein altes Leben vollkommen zerstört, dass ihm nichts geblieben war als ein Berg unerträglicher Erinnerungen.
Mit tränenverschleierten Augen sah er, dass sich Sennar langsam erhob und auf ihn zutrat. Dann umarmte er ihn. Eine Umarmung, in der nichts Herablassendes lag. Es war kein alter Mann, der einen Knaben umarmte, sondern die Umarmung zweier gleichwertiger Menschen.
»Wir werden diese Trauer gemeinsam tragen. Auch diese schreckliche Geschichte wird einmal enden, und wenn wir alles hinter uns haben und du sicher bist, kommst du mit zu mir und wirst bei mir wohnen. Es wird schön werden, auch wenn es nicht so wie früher sein wird. Aber es wird schön.« »Bleibst du denn jetzt nicht bei mir?«, fragte San und hob den Blick.
Sennar schüttelte nur den Kopf. »Vor mir liegt noch eine Aufgabe, ich werde noch gebraucht, so wie es mir deine Großmutter vor langer, langer Zeit prophezeit hat. Du bleibst bei Ido, in Sicherheit, an einem Ort, wo dir niemand wehtun kann. Aber ich komme zurück. Das schwöre ich dir.«
San barg sein Gesicht in Sennars Gewand, ausnahmsweise einmal ohne sich zu schämen, ein Kind zu sein. Ich muss mich irgendwie an mein neues Leben gewöhnen, dachte er, muss versuchen, stehen zu bleiben, während der Sturm um mich tost, und geduldig abwarten, was die Zukunft mir bringt.
Der Rat trat zu einer Vollversammlung zusammen. Es waren wirklich alle gekommen. Angefangen bei Sennar, dem - auf Beschluss aller Ratsmitglieder - jener Sessel zugewiesen wurde, auf dem er schon in jungen Jahren als Vertreter des Landes des Windes im Rat der Magier gesessen hatte, bis zu Dubhe, die mit ihrem schwarzen Umhang über den Schultern etwas abseits von den anderen saß.
Ido war fast ganz wiederhergestellt und hatte die Leitung der Sitzung übernommen.
Die Versammlung wollte kein Ende nehmen. Vor allem die einzelnen Berichte zogen sich in die Länge. Drei Monate lang war der Rat nicht mehr in voller Stärke zusammengekommen, und jetzt hatten alle etwas zu erzählen, um die anderen auf dem Laufenden zu halten.
Dafne machte den Anfang mit einer Darstellung der Kriegslage. Dort gab es eigentlich nichts Neues, man hatte sich in einer Pattsituation festgefahren. Immer noch hatte Dohor Mühe, seine neuen Eroberungen ganz unter Kontrolle zu bekommen, und ein Teil seiner
Weitere Kostenlose Bücher