Die Schattenplage
besser in die Stille Kiste sperren«, sagte Warren kichernd.
Seth grinste.
»Wahrhaftig, Seth, zu deinem eigenen Wohl, wenn du während dieser Krise keine Reife beweist, werde ich Warrens Vorschlag in die Tat umsetzen«, schwor Oma.
»Was ist mit unseren Eltern?«, fragte Kendra. »Habt ihr noch einmal etwas von ihnen gehört?«
»Ich habe ihnen mitgeteilt, dass wir euch am Donnerstag nach Hause schicken werden«, antwortete Opa.
»Donnerstag!«, rief Kendra aus.
»Heute ist Freitag«, sagte Seth. »Wir fahren in weniger als einer Woche nach Hause?«
»Strenggenommen ist heute schon Samstagmorgen«, bemerkte Dale. »Mitternacht ist vorüber.«
»Es war die einzige Möglichkeit, sie hinzuhalten«, erklärte Opa. »Die Schule beginnt übernächste Woche. Bis dahin werden wir uns irgendetwas überlegen.«
Seth tippte sich nachdenklich an die Schläfe. »Wenn das bedeutet, dass wir die Schule schwänzen müssen, sollten wir vielleicht Mom und Dad in den Kerker sperren.«
»Wir werden tun, was auch immer nötig ist«, seufzte Opa, der die Bemerkung anscheinend nicht ganz so scherzhaft nahm, wie Seth sie gemeint hatte.
KAPITEL 15
Wichtelsonntag
K endra saß vor einem Teller heißer Apfelpfannkuchen mit Puderzucker und war bereits nach ihrem dritten Bissen satt. Sie lächelte Oma an, schnitt sich mit der Seite ihrer Gabel noch ein Stück Pfannkuchen ab und tunkte es in Sirup. Oma strahlte sie an. Samstagmorgenpfannkuchen waren eine Sørensen’sche Tradition, und Apfelpfannkuchen waren Kendras Leibspeise.
Kendras schwacher Appetit hatte nichts mit dem Essen zu tun. Sie versuchte immer noch, den Traum der vergangenen Nacht abzuschütteln.
Sie war wieder auf dem Jahrmarkt gewesen, demselben Jahrmarkt aus dem Limousinentraum, demselben, auf dem sie als Kind umhergeirrt war, nur dass sie diesmal im Riesenrad fuhr und hoch emporstieg, bis die festlichen Lichter tief unter ihr funkelten und die Dampforgelmusik ganz leise wurde. Dann hatte sich das Riesenrad weitergedreht und Kendra tauchte wieder in die Gerüche, Bilder und Geräusche des lebhaften Jahrmarkts. Sie war allein in ihrer Gondel, aber in den anderen sah sie Freunde und Verwandte: Über und unter ihr saßen ihre Eltern, Seth, Opa, Oma, Lena, Coulter, Tanu, Vanessa, Warren, Dale, Neil, Tammy, Javier, Mara, Hal und Rosa.
Während die Fahrt weiterging, nahm die Geschwindigkeit des Riesenrads erschreckend zu, bis Kendras Gondel gefährlich hin- und herschwankte, vorwärts, abwärts, rückwärts und aufwärts … Das riesige Rad hatte sich bebend zur Seite geneigt und mit dem Geräusch von splitterndem Holz und ächzendem Metall waren einzelne Sitze herausgebrochen und in die Tiefe gestürzt. Kendra hatte nicht erkennen können, wen von ihren Freunden und Verwandten es erwischt hatte, und versuchte aufzuwachen, aber es war schwer, sich an den flüchtigen Gedanken zu klammern, dass die erschreckende Szene ihrer Fantasie entsprang. Da hatte sie unter sich Seth bemerkt, der sich mit hin- und herschwingenden Beinen an einem Pfosten festhielt.
Dann war das Riesenrad umgekippt, und Kendra war von ihrem Sitz gefallen und zusammen mit den Menschen, die sie liebte, durch die Dunkelheit gestürzt, die bunten Jahrmarktlichter immer heller, während sie auf den Boden zuraste. Eine Sekunde vor dem Aufprall war sie aufgewacht.
Kendra brauchte keine Psychologen, um den Traum zu deuten. Die tragische Eskapade auf der Bemalten Mesa hatte sie traumatisiert, und als sie dann nach Hause gekommen war und erfahren hatte, dass die Seuche sich ausgebreitet und nicht nur die Geschöpfe von Fabelheim befallen hatte, sondern auch Coulter und Tanu, hatte sie das Gefühl bekommen, als näherte sich die Gefahr von allen Seiten. Böse Leute waren hinter ihr her. Zu vielen Leuten, die angeblich gut waren, konnte sie nicht vertrauen. Selbst bei ihren Eltern war es nicht mehr sicher, und in Fabelheim schon gar nicht. Sie und alle, die sie liebte, waren in Gefahr.
»Du brauchst nicht mehr zu essen, als du willst«, sagte Oma, und Kendra merkte, wie sie geistesabwesend mit ihren Pfannkuchen herumgespielt hatte.
»Ich bin irgendwie angespannt«, gestand Kendra, aß noch eine Gabel voll und hoffte, dass ihr Gesicht fröhlich aussah, während sie kaute.
»Ich werde ihre Pfannkuchen nehmen«, bot Seth an, der mit seinem Teller fast fertig war.
»Wenn du nicht mehr wächst, wirst du fett werden wie eine Schnecke«, prophezeite Kendra.
»Wenn ich nicht mehr wachse, werde ich auch nicht mehr so
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