Die Schattenritter: Kuss der Dunkelheit
geworden, aber der Schlaf würde sie verzögern, deshalb hatte Molyneux ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Sobald ihr Körper sich daran gewöhnt hatte, würde die Wirkung nachlassen, doch fürs Erste war sie still.
»Nein. Dreux’ Zustand erreichte nie dieses Stadium.« Nachdem er erfahren hatte, dass Grey ein Nachfahre von Dreux war, beschloss Bishop, ihm die Wahrheit über dessen Selbstmord zu sagen. Obgleich die Familienbande kaum sechshundert Jahre überspannen dürften, schien Grey erleichtert, dass sein Vorfahr sich aus nobleren Gründen umgebracht hatte, als er ursprünglich dachte.
Bishop erwähnte nicht, dass Dreux aufgrund seiner »noblen« Einstellung häufiger mordete als der Rest vonihnen. Hätte der Narr sich richtig genährt, wäre er nie zu dem geworden, was er wurde.
Andererseits hatte Dreux es am wenigsten von ihnen allen verkraftet, ein Vampir zu sein. Bishop vermutete, dass er sich schon länger umbringen wollte. Vielleicht hatte er gehofft, einer der anderen würde es für ihn erledigen, und als er dann merkte, was mit ihm geschah, hatte er eine passende Entschuldigung, es endlich selbst zu tun.
Womöglich hatte er auch gedacht, er käme in den Himmel, wenn er sich opferte. Merkwürdig, aber Bishop glaubte, dass er selbst genau dorthin käme – vorausgesetzt, es gab einen solchen Ort. Nach allem, was er gesehen hatte, hegte er bisweilen Zweifel.
Er war religiös genug, um für Marikas Heilung zu beten, aber nicht so sehr, dass er glaubte, ihr Zustand wäre eine Strafe dafür, dass er die Männer tötete, die Elisabetta umgebracht hatten. So würde Chapel denken, Bishop nicht.
»Diese Gefolgsmänner der Silberhand sind gefährlich.« Grey fuhr sich mit der Hand durchs dichte dunkle Haar. »Das Gift, das sie bei Temple benutzten, hätte Prudence Ryland fast das Leben gekostet.«
»Chapels Mätresse?« Während der letzten paar Stunden hatten sie eine Menge geredet. Vor allem Grey und zwischendurch auch Molyneux berichteten Bishop von den jüngsten Ereignissen in England.
Grey zog eine Grimasse. »Ich würde sagen, die Bezeichnung trifft es nicht. Sie ist seine
Frau
. Die beiden wurden kürzlich in London getraut und reisten von dort nach Frankreich, als wir nach Ungarn aufbrachen.«
»Chapel machte sie zu einem Vampir, um sie zu retten?«
»Nein, er sog das Gift aus ihr heraus. Zum Vampir machte er sie erst, als sie zu sterben drohte.«
Bishop stutzte. »Am Gift?«
»An Krebs.«
»Und Chapel gab freiwillig unseren ›Fluch‹ weiter? Er muss sich ziemlich verändert haben, seit ich ihn das letzte Mal sah.«
Er erinnerte sich nicht mehr, wann es war, aber vor vielen Jahren fing Chapel an, sich selbst leidzutun, weil er ein Vampir war. Er redete sich ein, sie wären von Gott verflucht worden. Bishop und Saint fanden dieses Selbstmitleid und das Fluchgerede unerträglich.
»Ich glaube, er sieht seine Situation anders, seit es Pru in seinem Leben gibt.«
»Dann ist er verliebt?«
»Ohne Frage.«
Was für ein Zufall, dass es ihnen beiden fast zeitgleich passierte. Bishop hatte seit längerem nicht mehr mit Chapel – Severian – gesprochen, und dennoch schienen ihre Leben irgendwie miteinander verknüpft. Bishop war froh, dass sein Freund die Liebe seines Lebens gefunden hatte – und sagenhaft neidisch, weil er sie behalten durfte. Wenigstens war Chapels Frau bereit gewesen, ein Vampir zu werden.
»Es ist gewiss kein Trost«, sagte Grey leise, »aber mir tut sehr leid, was Miss Korzha zugestoßen ist – und Ihnen.«
Und wenngleich Bishop nicht sagen konnte, warum, rührten ihn die Worte des jungen Mannes. »Danke. Mir tut es auch leid.«
Eine Weile lasen sie alle schweigend weiter, bis Greysich räusperte. »Wissen Sie, der Orden legte mich ebenfalls herein.«
Wenn das keine Neuigkeit war! »Ach ja?«
Der junge Mann wandte das Gesicht ab. »Sie machten sich meine Neugier bezüglich Dreux Beauvrai zunutze. Ich hätte wissen müssen, dass sie übel sind, aber ich war durch meine eigenen Interessen geblendet. Vielleicht erging es Mr. Korzha genauso, und nun bezahlt er dafür.«
Bishop überzeugte das nicht so ganz, gleichwohl war es nicht so, dass er keinen Funken Mitgefühl für Marikas Vater aufbrachte. »Vielleicht, aber das hilft Marika wenig.«
»Nein, wohl nicht. Wenn ich Ihnen sage, dass sie sich diesen Weg für sich ausgesucht hat, drohen Sie mir dann körperliche Gewalt an?«
Bishops Lachen siedelte irgendwo zwischen einem Knurren und echter Belustigung.
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