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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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verzierten Marmor verkleidet, gotische Säulen umschlossen die Terrassen, aufwendige Zierzinnen schmückten das Dachgesims. Die hohen, spitz zulaufenden Fenster waren vergittert. Es konnte niemand hinein, aber genauso wenig hinaus. Anstatt Francesca jedoch zum Eingang des Palazzos zu führen, steuerte Nyarlath auf eine Treppe zu, die direkt ins Wasser führte.
    »Darf ich dich hereinbitten?«, fragte er in hämischem Tonfall. Natürlich wusste er, dass Francesca gar keine andere Wahl hatte. »Dies ist mein Heim, der Spiegelpalazzo.«
    Es dauerte einen Moment, ehe Francesca begriff. Sie warf einen schockierten Blick auf das Wasser. Im Licht des Mondes warf der herrschaftliche Palazzo sein spiegelverkehrtes Ebenbild auf die Oberfläche des Canal Grande.
    Nyarlath stieß sie in den Rücken und Francesca stolperte die Stufen hinunter. »Los, lauf weiter!«
    Kaltes Wasser drang in ihre Schuhe ein und leckte an ihren Hosenbeinen.
    »Aber ich kann da nicht hinein«, protestierte sie panisch. Sie stemmte die Füße in den Boden und widersetzte sich mit all ihrer Kraft seinem Griff. »Ich werde ertrinken!«
    »Das lass mal meine Sorge sein.« Nyarlath lachte. »Du ertrinkst nur, wenn ich es will.«
    Erneut versetzte er ihr einen Stoß, sodass sie die moosbewachsenen, glitschigen Stufen hinunterrutschte. Ehe sie es sich versah,befand sie sich bis zum Hals im Wasser. Nyarlath packte sie am Oberarm, tauchte hinab und Francesca nahm einen letzten, verzweifelten Atemzug, ehe sie von ihm ebenfalls unter Wasser gezerrt wurde.
    Das Lagunenwasser umschloss sie und rauschte in ihren Ohren, ihre Haare enthoben sich der Schwerkraft und flossen wie ein Schleier um sie herum. Nyarlath zog sie weiter zum Eingang des Palazzos, der hier unter Wasser ebenso real existierte wie sein Zwilling an Land. Als sie vor der ebenholzschwarzen Türe haltmachten, bemerkte Francesca zu ihrer Verblüffung, dass ihre Füße den Boden berührten und sie auf den ausgetretenen Eingangsstufen stand. Wie konnte das sein? Sie war doch unter Wasser! Sie verspürte nicht einmal den Drang, zu atmen. Obwohl sie wusste, dass das unmöglich war, hörte sie sogar ihre Schritte, als sie in die Eingangshalle traten. An den Wänden brannten Fackeln und erhellten den Raum. Alles sah so echt aus, dass Francesca im Vorübergehen unwillkürlich eine Hand ausstreckte und eine der Säulen berührte. Es war nicht nur eine Spiegelung, die unter ihrer Handbewegung zu Nichts zerstob – Francesca spürte die Kälte und Festigkeit des Steins unter ihren Fingern. Trotzdem wirkte alles in merkwürdiger Art und Weise verschwommen, die Konturen flossen ineinander, als würde das, was sie sah, sich unmerklich bewegen. Gegen ihren Willen war Francesca fasziniert. Sie betrat soeben ein neues Venedig – eine geheime, stille Stadt in den Tiefen des Wassers.
    Nyarlath führte sie durch unzählige Räume, sodass Francesca bald völlig orientierungslos war. Die Zimmer waren leer, kein einziges Möbelstück befand sich darin. Aber gerade deshalb kam die Schönheit des Palazzos erst richtig zur Geltung. Selbst im Vorübereilenbemerkte Francesca die kunstvollen Wand- und Deckengemälde, die reichen Stuckverzierungen und goldverzierten Bodenmosaike.
    Schließlich betraten sie einen fensterlosen Raum, der weit weniger prächtig war und wohl als Lagerraum gedient hatte. Überall standen mittelalterliche Foltergeräte herum und zu Francescas Schrecken war genau dieses Zimmer Nyarlaths Ziel. Er hielt inne und ließ seinen Blick der Reihe nach über die Folterinstrumente gleiten: Streckbank, Eiserne Jungfrau, Daumenschrauben, Zangen, Brenneisen, nadelbesetzte Walzen. Einige Gegenstände sahen so fremdartig aus, dass sich Francesca nicht einmal vorstellen konnte, auf welche Art und Weise sie dem Opfer Schmerzen zufügten. An einigen Folterinstrumenten glaubte sie sogar, matte rotbraune Flecken ausmachen zu können. Ob das eingetrocknetes Blut war?
    »Ah, dahinten ist er!«, rief Nyarlath erfreut aus. Er führte sie zu einem Stuhl, der am anderen Ende des Raums stand. »Nimm Platz!«, befahl er.
    Francesca schluckte schwer. »Ist das … ein ganz normaler Stuhl?«
    »Du hast doch nicht etwa Angst?«, fragte er spöttisch. »Dann wird es dich sicherlich erleichtern zu hören, dass ich nicht vorhabe, diese Dinge hier an dir anzuwenden«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten, denn er kannte sie bereits. Natürlich hatte sie Angst. Es gab keinen Menschen auf der Welt, der an Nyarlaths Seite diesen

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