Die Schattenträumerin
Denn keine Spur von Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht der alten Frau ab, die Fiorella zum Verwechseln ähnlich sah: Maria war klein, die schneeweißen Haare waren zu einem strengen Dutt festgesteckt und auf ihren Schultern ruhte eine schwarze Stola. Natürlich bat Maria auch Stella zu sich herein und so saßen sie erst einmal plaudernd am Tisch, tranken einen Espresso und Maria servierte einen großen Teller selbst gebackener Kekse. Um ihre Aufregung zu verbergen, futterte Francesca einen Keks nach dem anderen, bis Maria schließlich mit erstauntem Gesicht den leeren Teller abräumte. Francesca lächelte entschuldigend. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit zwischen den Fingern verrann. Denn obwohl Gianna, Fiorella und sie den ganzen Tag damit verbracht hatten, denDolch zu suchen, waren sie weder auf einen Geheimgang noch auf eine versteckte Nische gestoßen. Kurz bevor sie sich getrennt hatten, hatte Gianna ihr allerdings noch den Tipp gegeben, eine der Marmorplatten im oberen Flur näher zu untersuchen. Als sie noch klein waren, hatten sie sich oft auf diese Platte gestellt und sie auf und ab wippen lassen. Soweit sich Francesca zurückerinnern konnte, war die Platte schon immer locker gewesen. Dafür konnte es schließlich einen Grund geben. Vielleicht hatte jemand etwas darunter versteckt? Francesca musste unbedingt zum Palazzo zurück und sich diese Platte ansehen!
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Stella sich schließlich erhob. Fiorella drückte ihre Tochter zum Abschied an sich, strich ihr liebevoll über die kurzen Haare und Stella bat Maria augenzwinkernd, gut auf Fiorella und Francesca aufzupassen. So war es nicht verwunderlich, dass Maria sehr unglücklich dreinblickte, als die beiden schon wenige Minuten nach Stellas Aufbruch ihre Sachen zusammenrafften.
Während Francesca in ihre Jacke schlüpfte, fragte sie sich besorgt, ob Maria wohl zum Telefon greifen und Stella informieren würde. Fiorella schien dasselbe gedacht zu haben, denn sie raunte Maria zu: »Meine alte Freundin, ich erinnere dich nur ungern daran, aber du bist mir noch einen Gefallen schuldig. Du weißt schon, die Sache 1973.«
Maria zuckte unmerklich zurück. Irgendetwas in ihrem Blick schien sich zu verschleiern. Sie biss die Zähne zusammen und nickte. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, Fiorella, aber der Herr möge euch dabei beschützen«, sagte sie zum Abschied.
Francesca und ihre Großmutter kamen sich vor wie Verbrecher, als sie durch das abendliche Mestre eilten und sich dabei immer wieder schuldbewusst umsahen. Doch sie erreichten die Anlegestelle, zu der sie das Taxiboot bestellt hatten, ohne einen Zwischenfall. Wegen der horrenden Fahrpreise war Francesca noch nie mit einem Taxiboot gefahren, doch Fiorella meinte, die Rettung Venedigs sei ihr diese Investition wert. Trotzdem schnaubte sie entrüstet auf, als der Fahrer schon im Voraus eine unverschämt hohe Summe von ihr abkassierte. Das Boot war überdacht, sodass sie vor dem eisigen Fahrtwind geschützt waren, und Francesca ließ sich dankbar auf die mit Leder bezogene Rückbank sinken.
Als sie ablegten betrachtete sie durch das Fenster die Lichter Venedigs. Die vielen Kirchtürme ragten in den sternenklaren Abendhimmel hinauf. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es wäre, wenn all dies im Meer versank, wenn es diese einzigartige Stadt plötzlich nicht mehr geben und der Blick nur über eine nackte Wasserfläche streifen würde. Plötzlich waren all ihre Zweifel wie weggewischt und sie wusste wieder, dass sie das Richtige tat. Venedig musste leben. Nyarlath durfte den Fluch nicht zu Ende bringen!
»Was war das denn für eine Sache zwischen dir und Maria 1973?«, fragte Francesca, während sie sich noch tiefer in das Polster kuschelte.
»Du bist zu neugierig«, schnaubte Nonna genervt. »Es ist Marias Geheimnis und ich habe es nie jemandem erzählt, ansonsten hätte ich diesen Gefallen heute nicht einfordernkönnen. Sie hat damals meine Hilfe gebraucht, bei etwas, das im Allgemeinen für falsch gehalten wird. Doch im Leben ergeben sich manchmal Situationen, in denen der falsche plötzlich der richtige Weg wird.«
»Habt ihr etwa zusammen eine Bank ausgeraubt?«
»Was du mir so alles zutraust«, erwiderte Fiorella schmunzelnd. »Aber keine Sorge, es war nichts Ungesetzliches.«
Francesca dachte einen Moment lang nach. »Die meisten würden sagen, dass wir beide uns gerade ebenfalls für den falschen Weg entscheiden, doch uns erscheint er
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