Die Schattenträumerin
richtig zu sein.«
»Genau.« Sie setzte ein nervöses Lächeln auf, das Francesca noch nie an ihr gesehen hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, wie angespannt auch Fiorella sein musste. »Maria hatte recht: Möge der Herr uns heute Nacht beschützen, was immer uns auch erwarten mag.«
Bei ihren Worten überlief Francesca ein Frösteln. Was würde heute Nacht wohl geschehen, wenn es ihnen nicht gelang, den Dolch rechtzeitig zu finden? Sie musste an ihre Mutter denken. Nach dem letzten Beben hatte Francesca mehrmals versucht, sie mit dem Handy anzurufen. Sicherlich war sie nach dem abrupten Ende ihres Telefonats vollkommen aufgelöst gewesen und Francesca wollte ihr sagen, dass sie unverletzt war und sie sich keine Sorgen machen sollte. Aber ihre Mutter war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Sie machte ihre Drohung doch hoffentlich nicht wahr und kam gerade nach Venedig, um sie höchstpersönlich nach Hause zu holen? So seltsam, wie sie sichwährend ihres Gesprächs benommen hatte, traute Francesca ihr das ohne Weiteres zu. Mit ganzem Herzen hoffte sie jedoch, dass sie sich täuschte. Sie wollte nicht auch noch ihre Mutter in Gefahr wissen.
Fiorella griff nach ihrer Hand und begann, kaum hörbar zu sprechen. Francesca vermutete, dass sie betete und ließ sie in Ruhe.
Sie gähnte herzhaft und spürte, wie durch das Schaukeln des Bootes, das sanfte Auf und Ab der Wellen, ihre Anspannung nachließ. Schon immer hatte dieses sanfte Schaukeln eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt, doch heute war dieses Gefühl besonders intensiv. Als würde das Wasser der Lagune ihr einen letzten Moment des Friedens schenken wollen. Langsam, Welle für Welle, fielen alle Sorgen und Ängste von Francesca ab. Sie drückte Nonnas Hand und ihre Großmutter erwiderte den Druck. Egal, was geschehen würde, sie waren zusammen. Francesca lehnte den Kopf ans Fenster und spürte, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Es kostete sie unglaublich viel Kraft, sie immer wieder aufzureißen und schließlich erlaubte sich Francesca, sie für einen kurzen Moment zu schließen. Was sollte ihr denn schon passieren? Sie würde darauf achtgeben, dass sie nicht einschlief und Fiorella saß schließlich direkt neben ihr …
Sie lief durch die Dunkelheit. Hektisch, atemlos. Ihre Haare klebten feucht an ihrer Stirn, ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell, dass es schmerzte.
Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte ihr zu, dass sie eingeschlafen war. Sie musste aufwachen! Sofort!
Francesca blieb stehen. Vielleicht konnte sie sich dazu zwingen, wieder in die Realität zurückzukehren? Mit aller Kraft kniff sie sich in den Arm, der Schmerz war erschreckend real, doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Sie war gefangen in der Dunkelheit ihres Albtraums. Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Wie hatte sie sich nur erlauben können, die Augen zu schließen? Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Aber vielleicht gab es noch eine Chance: Sie musste Nyarlath nur lange genug entkommen, bis Fiorella bemerkte, dass sie eingeschlafen war und sie aufweckte.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, doch im selben Moment bohrte sich eine krallenartige Hand in ihre Schulter und riss sie unsanft zurück. Francesca entwich ein entsetzter Schrei. Sie hatte Nyarlath nicht kommen hören. Er musste von Anfang an hinter ihr gewesen sein.
»Willkommen! Ich habe schon auf dich gewartet«, raunte er ihr mit seiner krächzenden Stimme zu. »Heute haben wir leider keine Zeit für Spielchen. Du darfst mich sofort in meinen Spiegelpalazzo begleiten, einverstanden?«
Francescas Antwort war ein schmerzverzerrtes Wimmern.
Er führte sie durch das Dunkel, so zielsicher, dass Francesca nicht einmal ins Stolpern geriet oder gegen eine Hausecke stieß. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihm entkommen konnte, doch seine Krallen bohrten sich wie spitze Nägel in ihre Schulter. Selbst wenn es ihr gelänge, sich von ihm zu befreien – wo sollte sie hin? Dieser Ort war Nyarlaths Element.
Sie bogen um eine Ecke und Francesca blinzelte vor Überraschung, als sie plötzlich ein fahles Licht ausmachen konnte. Es war der Mond, der groß am Himmel stand und seinen weißenStrahl über den Canal Grande legte. Neben ihnen erhob sich ein herrschaftlicher Palazzo, den Francesca schon oft im Vorbeifahren bewundert hatte. Dies bestätigte ihre Vermutung, dass ihr jahrelanger Albtraum immer nur an einem einzigen Ort gespielt hatte – in Venedig. Das Gebäude war mit einem prunkvoll
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