Die Schattenträumerin
Blick trübte sich, vor ihren Augen schien sich alles zu drehen, sie wusste nicht einmal mehr, wo oben und unten war. Die unsichtbare Eisenhand presste ihren Körper immer weiter zusammen, bis jeder Nerv, jede Faser und jeder Muskel ihres Körpers brannte. Plötzlich spürte sie, dass sich mit dem stetig steigenden Schmerz noch etwas anderes veränderte. Eine bleierne Leere begann sich in ihr auszubreiten. Wofür kämpfte sie eigentlich? Wofür ertrug sie dies alles? Im Grunde war es doch gleichgültig. Es sollte nur ein Ende haben. Alles, was je wichtig für sie gewesen war, wurde von den Schmerzen verschlungen. Die Qualen ihres Körpers löschten jeden Funken Freude und Hoffnung, den sie in ihrer Seele trug, unerbittlich aus.
Vor ihren Augen zerfloss der Raum zu einem Strudel aus Farben und Formen, ihre Augenlider flatterten. Sogar ihre Gedankenschienen vor Schmerz gelähmt zu sein. Nur noch einzelne Wortfetzen zogen durch ihr Bewusstsein …
…zu schwer … ertrage es nicht mehr …
…es soll aufhören … aufhören …
…will …sterben …
Nyarlaths Hände legten sich auf ihre Schultern. Augenblicklich war die unsichtbare Eisenhand verschwunden, ihr Körper dehnte sich wieder aus. Automatisch atmete Francesca ein, obwohl sie immer noch halb bewusstlos war. Sie hatte immer noch Schmerzen, zu stark war der Druck auf ihre Ohren und den Rest ihres Körpers gewesen.
»Nun hast du einen kleinen Vorgeschmack meiner Möglichkeiten bekommen. Wenn es dir gefallen hat, können wir es so oft wiederholen, wie du möchtest«, sagte Nyarlath zufrieden. »Ich frage dich noch einmal: Hast du das Necronomicon gefunden?«
Sie konnte ihren Kopf kaum aufrecht halten. Immer wieder sackte er auf ihre Brust herab. Noch immer schien sich der Raum um sie herum zu drehen, ihr Magen rebellierte.
»Francesca, hast du mich gehört?«
Sie nickte wortlos.
»Hast du das Buch gefunden?«
Sie nickte erneut.
»Wo ist es?«
Sie antwortete nicht.
Ein unangenehm beißender Geruch stieg ihr in die Nase und eine Stimme drang in ihr Bewusstsein, die ihren Namen rief. Wer war das? Sie wusste es nicht. Es war egal. Alles war ihr gleichgültig.
»Willst du die Schmerzen noch einmal ertragen, du törichtes Kind?«, drohte Nyarlath.
Francesca schüttelte den Kopf. Selbst diese kleine Bewegung kostete sie übermäßig viel Kraft und löste eine neue Welle der Übelkeit aus.
»Wo ist das Necronomicon?«
»Im Ca’nera«, flüsterte sie. »Im schwarzen Palast.«
Nyarlaths triumphierendes Lachen hallte durch die leeren Räume des Spiegelpalazzos.
»Wir sehen uns gleich wieder«, zischte er.
Der Traum verblasste.
Die Schmerzen ließen nach.
Francesca riss die Augen auf und sah Nonnas besorgtes Gesicht über sich. Im ersten Moment spürte sie nur grenzenlose Erleichterung. Nichts von ihrem Traum war zurückgeblieben. Ihr Körper fühlte sich befreit und unendlich leicht an.
Sie saßen immer noch im Taxiboot, der Albtraum konnte nicht lange angedauert haben. Wieder stieg Francesca der scharfe Geruch in die Nase und ließ sie eilig den Kopf wegdrehen.
»Riechsalz«, erklärte Fiorella. »Manchmal konnte ich damit auch deinen Großvater aus der Traumwelt zurückholen. Dem Himmel sei Dank, habe ich nie aufgehört, das Fläschchen mit mir herumzutragen. Ich hatte wohl schon so eine Ahnung, dass es mir auch bei dir einmal helfen würde.«
Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet Francesca, dasssie in wenigen Minuten den Palazzo erreicht hatten. Sie griff nach der Hand ihrer Großmutter.
»Nonna«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Er weiß, dass wir das Buch haben. Nyarlath wird jeden Augenblick in unseren Palazzo kommen.«
Das Fläschchen in Fiorellas Hand fiel klirrend zu Boden.
Francesca lief atemlos in den Ballsaal, den schweren Vorschlaghammer hinter sich herziehend. »Nonna, bist du hier?«
Sie suchte den Raum ab, bis sie schließlich Fiorellas kleine Gestalt im Kamin entdecken konnte. Sie stand auf den Zehenspitzen und tastete mit ihrer gesunden Hand die Fugen ab. Francesca eilte zu ihr.
»Hast du etwas gefunden?«
»Leider nicht.« Fiorella ließ sich zurück auf ihre Ballen sinken. »Die Steine sitzen alle bombenfest und die Fugen sind nirgendwo beschädigt.« Sie trat aus dem Kamin heraus, hielt jedoch in der Bewegung inne und fasste sich benommen an den Kopf. Sie schwankte plötzlich so sehr, dass sie wahrscheinlich gestürzt wäre, wenn Francesca nicht sofort ihren Arm ergriffen hätte.
»Ist alles in Ordnung?«,
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