Die Schattenträumerin
wurde, der Isabella noch vor der Geburt sitzen gelassen hatte, war in Fiorellas Augen der Beweis dafür, dass Isabella ohne die Familie nicht zurechtkommen konnte. Obwohl Fiorella ihre Tochter damals eindringlich darum gebeten hatte, nach Venedig zurückzukommen, hatte sich Isabella geweigert und Francesca in Deutschland zur Welt gebracht. Zwar hatte Francescas Vater in den Jahren danach sein feiges Verhalten bereut und besuchte nun seine Tochter regelmäßig mit einem Berg von Geschenken, doch für Fiorella blieb er nach wie vor ein Nichtsnutz.
Francesca setzte sich auf. »Jetzt erzähle mir bitte, warum du mich unbedingt sehen wolltest«, verlangte sie.
Fiorellas Miene wurde ernst. »Das hat Zeit. Später.«
»Nein, das hat nicht Zeit«, widersprach Francesca. »Was ist passiert? Hattest du wieder eine deiner Todesvisionen? «
Die letzte Frage entwich Francesca in einem ungewollt ironischen Ton, der ihrer Großmutter nicht entgangen war. Ihre Augenbrauen, die so weiß waren, dass sie über ihrer hellen Haut schon fast unsichtbar schienen, zogen sich wie zwei Wolken über ihrer Nase zusammen. »Hast du etwas an meinen Todesvisionen auszusetzen?«, fragte sie gereizt.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Francesca zu versichern.
»Francesca!«, ermahnte Nonna sie. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wenn Francesca ihr nicht die Wahrheit sagte.
Ergeben seufzte Francesca auf. »Deine Todesvisionen sind zwar immer sehr spektakulär, allerdings sind noch so viele von den Menschen, denen du einen baldigen Tod prophezeit hast, am Leben.«
Zu Francescas Überraschung breitete sich auf dem Gesicht ihrer Großmutter ein heimtückisches Lächeln aus. »Ja, das war sehr klug von mir.«
»Klug?«
»Manchmal muss man den Menschen ihre eigene Vergänglichkeit ins Gedächtnis rufen, um sie auf den richtigen Weg zu führen«, erklärte sie Francesca. »Seit ich unserem Nachbarn Alfredo prophezeit habe, dass er innerhalb eines Jahres an Leberversagen sterben wird, hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Dadurch hat er wieder seinen alten Arbeitsplatz bekommen und seiner Familie geht es seither viel besser.«
Sprachlos starrte Francesca ihre Großmutter an. So etwas Hinterlistiges hätte sie ihr niemals zugetraut, selbst wenn es einem guten Zweck diente.
Fiorella beugte sich vor und tätschelte Francescas Hand.
»Ich verstehe, dass du neugierig bist, doch hab noch ein wenig Geduld. Du solltest erst einmal richtig ankommen, etwas essen und eine Nacht schlafen«, sagte Fiorella in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich gehe morgenMittag zur Messe. Wir treffen uns danach im Caffè Florian. Dort werde ich dich in alles einweihen.«
Erstaunt sah Francesca auf. Es musste sich um etwas Wichtiges handeln, wenn Nonna sie in das teuerste Kaffeehaus Venedigs einladen wollte.
»Aber …«, wagte Francesca dennoch einzuwerfen.
»Morgen!«, fiel ihr Fiorella ins Wort. »Was ich dir zu sagen habe, ist vertraulich und hier haben die Wände Ohren. Keiner aus der Familie darf davon erfahren, hast du verstanden? Auch nicht Gianna.«
Francesca warf ihrer Großmutter einen irritierten Blick zu. Das klang ja immer geheimnisvoller.
»Jetzt möchte ich jedoch noch einige grundsätzliche Dinge mit dir besprechen«, verkündete Fiorella. »Du bist die letzte Medici. Das bedeutet eine große Verantwortung. Wenn du einmal heiratest, muss dein Mann deinen Namen annehmen. Hast du verstanden?«
Francesca dachte, sie hätte sich verhört. Sie war erst dreizehn Jahre alt und bisher hatte sie noch nicht einmal einen festen Freund. Das Letzte, an was sie dachte, war zu heiraten. Fiorella hatte sie doch nicht etwa nach Venedig beordert, um mit ihr solche Dinge zu besprechen? Fehlte nur noch, dass ihre Großmutter gleich zu einem peinlichen Aufklärungsgespräch mit Bienen- und Blumenmetaphern ansetzte!
»Und wenn mein zukünftiger Mann nicht den Namen Medici annehmen will?«, fragte sie bissig.
»Dann ist er sowieso der Falsche«, winkte Fiorella ab. »Dann suchst du dir einen anderen.«
Francesca verschränkte die Arme vor der Brust und stieß ein entnervtes »Pffff« aus. Wenn man Fiorella so reden hörte, hätte man meinen können, sie entstammten einer einflussreichen Königsfamilie und müssten die Thronfolge sichern.
»Und wenn du Kinder hast …«, fuhr Fiorella prompt fort, hielt dann jedoch besorgt inne. »Ich habe dich nie gefragt, ob du Kinder haben möchtest. Du willst doch welche, oder?«
»Nonna, ich
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