Die Schattenträumerin
endete der Traum immer kurz vor ihrer Entdeckung, auf dem Höhepunkt ihrer Angst. Doch nicht dieses Mal … Der Albtraum begann sich zu verändern. Ob dies etwas zu bedeuten hatte? Der Kinderpsychologe hätte dies wahrscheinlich für einen Fortschritt gehalten und würde es als Zeichen deuten, dass Francesca beginne, sich ihren unterdrückten Ängsten zu stellen.
Aber irgendetwas in Francesca ahnte, dass diese Veränderung nichts Positives bedeutete. Nein, es war sogar alles andere als positiv. Er hatte sie gefunden! Ein Gefühl sagte ihr, dass von nun an alles schlimmer werden würde.
Francesca setzte sich auf und massierte geistesabwesend ihren schmerzenden Knöchel. Sie fühlte sich wie gerädert.
Gianna, die am Schreibtisch an einer Zeichnung arbeitete, sah mit einem Lächeln auf. »Guten Morgen, du Schlafmütze! Ich dachte schon, du willst den ganzen Tag im Bett bleiben.«
»Ist es schon so spät?« Francesca warf einen Blick auf ihren Radiowecker. Erstaunt stellte sie fest, dass schon elf Uhr vorbei war. Sie hatte fast den ganzen Morgen verschlafen! »Tut mir leid, aber ich hatte Probleme, einzuschlafen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Eigentlich hatte sie sich dazu gezwungen, wach zu bleiben. Immerhin wusste sie aus Erfahrung, dass sich ihre Albträume in Venedig verschlimmerten.Sie hatte sich davor gefürchtet, in diese Welt aus Dunkelheit, Angst und Verfolgung einzutauchen. So hatte sie krampfhaft die Augen offen gehalten und die Decke angestarrt, doch gegen Morgen hatte sie die Müdigkeit übermannt. Ihre Augen waren zugefallen wie zwei schwere Tore, die sie in eine fremde Welt beförderten.
»Du hattest keine gute Nacht, oder?« Gianna legte ihre Zeichnung beiseite und warf ihr einen besorgten Blick zu. »Ich habe gesehen, wie du dich unruhig hin- und hergewälzt hast.«
»Es war halb so schlimm.« Francesca versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen. »Mach dir bitte keine Sorgen um mich, ich bin an diese Albträume gewöhnt!«
Gianna zog skeptisch eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. »Jetzt zieh dich erst mal an und komm mit nach unten«, schlug sie nach einer beklemmenden Pause vor. »Ich werde Mama sagen, dass sie dir eine heiße Schokolade machen soll. Soviel ich weiß, haben Luca und Matteo vom Frühstück noch einen kleinen Rest übrig gelassen. Abgemacht?«
Francesca nickte ihr dankbar zu. Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, fühlte sie sich tatsächlich schon viel besser, und während sie die Stufen hinab zur Küche ging, war sie in Gedanken schon bei der Frage, was für ein ominöses Geheimnis ihr Nonna Fiorella wohl in wenigen Stunden anvertrauen würde. Als sie am Salone da ballo vorbeilief, dem einstigen Ballsaal des Palazzos, hielt sie einen Moment inne. Der Ballsaal war der Mittelpunkt des ersten Stockes und von kleineren Zimmern umgeben, ausdenen gerade lautes Hämmern, Radiomusik und unterdrücktes Fluchen drangen. Hier sollten die neuen Gästezimmer entstehen.
In keinem anderen Raum war der Verfall des Palazzos so deutlich spürbar wie im Ballsaal. Die Wandgemälde waren verblasst, der Stuck war zerbrochen und das Wappen der Medicis, das als großes Mosaik den Fußboden zierte, zum größten Teil zerstört. Nur mit Mühe konnte man noch das goldene Rossstirnschild erkennen, in dem fünf rote Kugeln schwebten. Gekrönt wurden sie einst von einer blauen Kugel, in die drei goldene Lilien eingefasst waren, doch an dieser Stelle klaffte nur noch ein hässliches Loch im Mosaikboden.
Das Tageslicht, das durch die breiten Fenster fiel, ließ den Verfall noch deutlicher erscheinen. Die zahlreichen Spiegel, die die gegenüberliegende Seite schmückten und den Saal einst noch größer und glanzvoller wirken ließen, waren blind oder zerbrochen. Als Francesca an ihnen vorüberlief, sah sie ihr Spiegelbild nur zerstückelt, oft fehlte ihr ein Teil des Gesichts oder ihr Körper wirkte seltsam entstellt. Der Spiegel, vor dem sie nun stand, bedeckte ihren Kopf mit einem schwarzen Schleier, als wäre sie von einer Aura des Todes umgeben … Francesca fröstelte. Eilig wandte sie sich ab und schlang wärmend ihre Arme um sich. Der Ballsaal gehörte zu den Zimmern, die selbst bei großer Kälte nicht beheizt wurden.
Dort, wo einst die Kronleuchter aus Murano den Saal in prachtvolles Licht getaucht hatten, hingen heute nur noch die nackten Aufhängungen von der Decke herab. Sie warenbereits vor Jahrzehnten verkauft worden. Schon oft hatte sich Francesca gefragt, wie das
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