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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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ausgebreitet, als sei das, was sie Nacht für Nacht träumte, zu schlimm, zu grauenvoll, als dass ihr Verstand mehr als nur schemenhafte Erinnerungen zulassen konnte. Alles, was nach dem Aufwachen blieb, war die Angst. Eine Angst, deren Kälte ihren ganzen Körper erfasste und die so intensiv war, dass sie ihr die Kehle zuschnürte.
    Der Kinderpsychologe vermutete damals, dass Francescas Mutter etwas mit den Albträumen zu tun hatte. Im Verlauf der Sitzungen hatte er immer öfter begonnen, Francesca nach der Beziehung zu ihrer Mutter auszufragen und wollte ihr Worte und Anschuldigungen in den Mund legen, die sie niemals gesagt hatte. Daraufhin behauptete Francesca einfach, dass die Albträume aufgehört hatten. Doch ihrer Cousine konnte sie die Wahrheit nicht verheimlichen, oft genug wurde Gianna nachts von ihrem Schluchzen und ängstlichenWimmern aus dem Schlaf gerissen. Denn an keinem anderen Ort waren Francescas Albträume so schlimm wie in Venedig.
    Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn sie nur endlich herausfinden könnte, warum diese Albträume eine so große Angst in ihr weckten, dann könnte sie sie auch besiegen, da war sich Francesca sicher! Aber kein Buch, so unheimlich und grauenerregend es auch sein mochte, hatte es bisher geschafft, dieselbe Angst hervorzurufen.
    Gianna legte eine Hand auf Francescas Arm. »Entschuldige, ich weiß, du sprichst nicht gern über dieses Thema.«
    »Ist schon in Ordnung!« Francesca zwang sich zu einem Lächeln. »Wenigstens bist du die Einzige, mit der ich offen über alles reden kann. Es tut gut, wenn man sich nicht andauernd verstellen muss.«
    Gianna nickte und packte die Bücher zurück in den Koffer. »Du solltest jetzt endlich Nonna begrüßen«, erinnerte sie Francesca. »Sie erwartet dich schon sehnsüchtig, wie immer.«
    Etwas in Giannas Tonfall ließ Francesca stutzen. War sie etwa eifersüchtig? Doch als sie in Giannas Augen blickte, sah sie keine Anzeichen von Neid oder Missgunst. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht.
    Francesca erhob sich. »Gut, dann versuche ich gleich herauszubekommen, warum mich Nonna unbedingt sprechen wollte. Sonst platze ich noch vor Neugierde!«
    Auf dem Weg zum Zimmer ihrer Großmutter hallten ihr die Klänge eines Orchesters entgegen. Vivaldi, erkannte Francesca schon nach wenigen Takten, der Lieblingskomponistihrer Großmutter. Jedes seiner Stücke, so meinte Fiorella immer, erzähle von der Schönheit Venedigs und in jedem Motiv sei das Wasser der Lagune zu hören.
    Ohne anzuklopfen betrat Francesca das Zimmer. Die Wände waren mit einem dunklen Holz verkleidet, wodurch es warm und gemütlich wirkte. In dem Kamin, vor dem ein Lehnstuhl und ein schon reichlich abgenutztes Sofa standen, knisterte ein Feuer. Im gegenüberliegenden Teil des Zimmers befand sich Fiorellas Bett, über dem ein schlichtes Holzkreuz hing, und ein antiker Schreibtisch, den Fiorella allerdings nur selten benutzte. Ihre Großmutter saß mit stolz aufgerichtetem Rücken im Lehnstuhl, auf ihren Schultern lag wie immer eine schwarze grob gestrickte Stola. Ihr Gesicht verriet mit keiner Regung, ob sie Francescas Eintreten bemerkt hatte. Ihre Augen, die von einem milchigen Schleier überzogen waren, blickten ins Leere.
    Francesca blieb schweigend neben der Vitrine stehen, in der die wertvollen Bücher ihres Großvaters untergebracht waren. Wenn sich Fiorella ein Musikstück anhörte, konnte sie auf Störungen sehr ungehalten reagieren. Sie meinte, jedes menschliche Geräusch würde den Zauber der Musik vertreiben – als würde man der Musik den Atem rauben.
    Francescas Blick fiel auf die Kommode, auf der sich die goldgerahmten Bilder aller Familienmitglieder reihten. Trotz ihrer Blindheit wusste Fiorella immer genau, welches Foto an welchem Platz zu stehen hatte. Francescas Bild stand links außen und zeigte sie als Siebenjährige am Badestrand des Lido, wie sie aus Sand eine Nachbildung des Dogenpalastes gebaut hatte. Sie strahlte glücklich in die Kamera, obwohlihr kleiner Dogenpalast mit seinen vielen Fenstern eher einem viereckigen Stück Käse glich. Eine Sekunde, nachdem das Foto aufgenommen worden war, hatte Luca einen Eimer Wasser über Francescas Sandpalazzo ausgegossen, mit den Worten »Rekordhochwasser in Venedig!«. Woraufhin Francesca ihm ihre hellblaue Plastikschippe auf den Kopf gehauen hatte. Tante Stella hatte die beiden Kinder damals nur mit Mühe wieder beruhigen können.
    Genau in der Mitte standen zwei Fotografien, deren rechte Ecken

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