Die Schattenträumerin
Brüllen des Markuslöwen nicht gehört haben. Obwohl Nonna steif und fest behauptet hat, dies sei mehr als nur eine alte venezianische Legende.«
»Zu mir hat sie gesagt, wir hätten uns einfach besser die Ohren putzen sollen, dann hätten wir das Brüllen des Löwen auch gehört.« Gianna lachte.
»Wahrscheinlich wollte sie nur ausprobieren, ob sie es schafft, zwei Teenager in den Ferien morgens um fünf Uhr aus den Federn zu bekommen.«
Francesca setzte sich auf das Bett und kraulte Cosimo am Hals, was der Kater mit einem genüsslichen Schnurren kommentierte.
»Weißt du was? Ich packe für dich aus und du kannst solange Großmutter begrüßen«, schlug Gianna vor. »Es gibt sowieso bald Abendessen. Allerdings muss ich dich warnen – meine Mutter kocht heute.«
»Oh.«
Normalerweise war Tante Viola, die Mutter von Luca und Matteo, für das Kochen zuständig. Wenn das Restaurant jedoch wie nun über die Weihnachtsfeiertage geschlossen war, legte sie sich den ganzen Tag über ins Bett, sah sich Liebesfilme an und wollte ihre Ruhe haben. Selbst Matteo konnte seine Mutter noch so sehr um eine ihrer Leckereien anbetteln, sie weigerte sich, auch nur einen Fuß in die Küche zu setzen. So musste notgedrungen Giannas Mutter Stella für die Verköstigung sorgen. Auch wenn Stella Francescas Lieblingstante war, musste sie doch zugeben, dass deren Kochkünste in der ganzen Familie gefürchtet waren.
»Nicht so schlimm«, winkte sie ab und erhob sich wieder, da Cosimo ihr mit einem unwilligen Fauchen deutlich gemacht hatte, dass die Schmusezeit nun beendet war und er nicht weiter betatscht werden wollte. »Ich habe sowieso keinen großen Hunger.«
Ehe Francesca sie davon abhalten konnte, hatte Gianna schon ihren Koffer auf das Bett gewuchtet.
»Himmel, was hast du denn da drin?«, keuchte sie. »Nein, lass mich raten: Bücher, stimmt’s?«
Francesca steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern in die Höhe. »Stimmt«, gab sie verlegen zu. »Mama hat mir zu Weihnachten so viele interessante Bücher geschenkt, dass ich mich nicht entscheiden konnte, welche ich mitnehmen soll.«
Die Leidenschaft für das Lesen hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Isabella di Medici nutzte genau wie Francesca jede freie Minute, um ihre Nase in ein Buch zu stecken.
»Und da hast du einfach alle eingepackt?« Gianna zog den Reißverschluss des Koffers auf und vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. »Sind da drin überhaupt irgendwelche Kleider? Hast du denn nicht einmal Unterwäsche mitgenommen?«
»Natürlich«, verteidigte sich Francesca empört. »Sieh mal, unter den Büchern sind Socken und Unterwäsche! Aber ich dachte, da wir beide sowieso die gleiche Größe haben, könntest du mir vielleicht …« Sie stockte.
»Ein paar Kleider ausborgen?«, beendete Gianna ihren Satz grinsend. »Natürlich! Aber ich muss dir leider sagen, dass du mindestens genauso verrückt bist wie Matteo mit seinem Rülpsweltrekord.«
Gianna nahm ein Buch heraus und betrachtete die blutroten Buchstaben auf dem Cover. »Das sieht wirklich gruselig aus. Was für ein Buch ist das?«
»Der Hexer des Teufels«, übersetzte Francesca den deutschen Titel.
Gianna erschauderte sichtlich. »Es wundert mich nicht, dass du immer Albträume hast, wenn du solche Sachen liest!«
Francescas Lächeln verblasste. »Die Bücher sind nicht daran schuld«, widersprach sie leise.
Natürlich lag der Verdacht nahe, doch sie wusste es besser. Es waren die Albträume, die zuerst dagewesen waren. Erst ihretwegen hatte Francesca begonnen, diese gruseligen Bücher zu lesen. In ihnen hoffte Francesca eine Antwort zu finden.
Abgesehen von Gianna wusste niemand von ihren Schlafproblemen.Früher konnte Francesca sich noch in das Bett ihrer Mutter flüchten, wenn die Albträume allzu schlimm gewesen waren. Doch als sie älter geworden war, hatte ihre Mutter begonnen, sich Sorgen zu machen. Sie meinte, diese schaurigen Albträume seien nicht mehr normal, und so hatte sie Francesca kurzerhand zu einem Kinderpsychologen geschickt. Dem musste sie jede Woche genauestens ihre Träume schildern, was nicht einfach war, da sich Francesca kaum an Einzelheiten erinnern konnte. Sie wusste nur, dass sie durch die Finsternis rannte und von irgendetwas gejagt wurde. Aber vor was lief sie davon? Auch der Ort, an dem ihr Traum jedes Mal spielte, kam ihr trotz der Dunkelheit seltsam bekannt vor. Tagsüber hatte sich jedoch ein Schleier des Vergessens über all dies
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