Die Schattenträumerin
mit einer schwarzen Binde umschlungen waren und vor denen eine kleine Kerze flackerte. Das eine Bild zeigte Francescas Großvater, der schon lange vor ihrer Geburt unter mysteriösen Umständen gestorben war. Man fand ihn eines Morgens tot in einem Kanal treibend, anscheinend war er abends auf dem Heimweg ausgerutscht, hatte sich den Kopf gestoßen und war in einen Kanal gefallen. Ihre Großmutter war nie über seinen frühen Tod hinweggekommen und verehrte sein Andenken wie das eines Heiligen. Nur fünf Jahre später starb ihre älteste Tochter Cecilia. Ihr Tod war ein Thema, über das niemand in der Familie gerne sprach. Erst vor einigen Jahren hatte Francesca herausgefunden, dass Cecilia sich aus dem obersten Stockwerk des Palazzos in den Nebelkanal gestürzt hatte. Ein Unfall war ausgeschlossen.
Das Orchester stimmte den Schlussakkord an, die darauffolgende Stille wirkte so befremdlich, dass Francesca automatisch die Luft anhielt. Leise schwang die Nadel des Schallplattenspielers nach oben und zur Seite.
»Francesca, worauf wartest du?« Fiorella trommelte ungeduldigauf den Griff ihres Stocks. »Willst du deine alte Großmutter etwa nicht begrüßen?«
Francesca schüttelte schmunzelnd den Kopf. Auch wenn ihre Großmutter blind war, so waren ihre anderen Sinne derart geschärft, dass es fast schon unheimlich war. Fiorella breitete erwartungsvoll ihre Arme aus und Francesca beugte sich zu ihr hinunter. Im selben Moment umhüllte sie der Duft von Seife und Kaffee, der für Fiorella so typisch war. Wieder einmal erschrak Francesca, wie gebrechlich sich ihre stolze und strenge Großmutter unter ihren Händen anfühlte.
»Entschuldige, ich wollte dich nur nicht stören, während du Vivaldi hörst.«
»Wenn du mich mit deiner Kenntnis der klassischen Musik beeindrucken möchtest, dann solltest du mir auch sagen, welche seiner Kompositionen ich mir angehört habe?«
»Das müsste das Cellokonzert in c-Moll gewesen sein«, tippte Francesca, ohne zu zögern.
Überrascht zog Fiorella eine Augenbraue hoch, doch einen Moment später lachte sie leise auf. »Du kleines Schlitzohr hast beim Reinkommen auf die Schallplattenhülle gesehen, nicht wahr?«
»Es könnte sein, dass ich zufällig einen Blick darauf geworfen habe«, gestand Francesca.
»Du bist genau wie dein Großvater, Gott hab ihn selig. Er hat auch immer versucht, mich zu veräppeln.« Sie beugte sich vor. »Aber es ist ihm nie gelungen, meine Liebe.«
Sie deutete auf das Sofa, das ihrem Lehnstuhl gegenüberstand. »Setz dich zu mir, meine letzte Medici!«
Francesca verzog das Gesicht. Sie mochte es nicht, wennihre Großmutter sie so nannte. Doch es war eine Tatsache, dass sie die Einzige von Fiorellas Enkelkindern war, die den Nachnamen Medici trug und ihn somit vor dem Aussterben bewahrte.
»Dein Italienisch ist übrigens grauenvoll! Du hast einen ganz unangenehmen Akzent«, tadelte Fiorella sie. »Du musst mehr üben, auch wenn du in Deutschland bist! Es ist die Sprache deiner Vorfahren.«
Francesca rutschte unruhig auf der Kante des Sofas herum. Sie war nicht hier, um über ihre italienische Aussprache zu plaudern. »Warum hast du mich gebeten, nach Venedig zu kommen?«, platzte es aus ihr heraus.
»Nicht jetzt!«, wich Fiorella ihr aus. »Erzähle mir erst einmal, wie es dir geht!«
»Gut.«
»Und wie geht es deiner Mutter?«
»Auch gut.« Francesca hatte nicht vor, sich in eine belanglose Unterhaltung verwickeln zu lassen. Sie wollte nun endlich wissen, was los war!
»Wird meine jüngste Tochter denn endlich einmal heiraten?« Fiorella rümpfte die Nase. »Ich hoffe doch, sie trifft sich nicht wieder mit diesem nichtsnutzigen, verd…«
»Nonna!«, fiel Francesca ihr ins Wort. »Du sprichst doch nicht etwa von meinem Vater, oder? Hast du nicht gesagt, man soll nicht fluchen?«
Ihre Großmutter reckte herausfordernd ihr Kinn. »Jawohl, wenn es nicht unbedingt sein muss, sollte man das Fluchen vermeiden. Aber in diesem Fall ist es leider notwendig.«
Fiorella konnte es einfach nicht lassen, auf diesem Themaherumzuhacken. Dies war auch einer der Gründe, warum Francescas Mutter so selten wie möglich nach Venedig kam. Denn kaum waren Fiorella und Isabella länger als fünf Minuten zusammen in einem Raum, endete dies in einem Streit. Hauptthema ihrer Auseinandersetzungen war die Tatsache, dass Isabella der Familie den Rücken gekehrt hatte und im weit entfernten Deutschland lebte und arbeitete. Dass sie dabei von einem Deutschen schwanger
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