Die Schattenträumerin
Leben im Palazzo früher gewesen sein mochte. Als das Ca’nera, der schwarze Palast, noch eine weiße Fassade hatte und die Familie noch nicht verarmt war. Damals, als vor fünf Jahrhunderten die Medicis in Venedig angekommen waren, mit dem Ziel, in der aufstrebenden Handelsstadt ein Bankimperium aufzubauen. Lakaien, Küchenpersonal, Dienstmädchen und Gondolieri waren in dieser Zeit im Palazzo beschäftigt und es wurden rauschende Bälle gefeiert.
Francesca schloss die Augen und versuchte, in die Erinnerungen des Ballsaals einzutauchen … Musik, Stimmengewirr und Lachen drangen an ihr Ohr. Das goldene Licht der Kronleuchter erhellte den mit Blumen geschmückten Raum. Die Herren forderten die Damen, die rauschende, prunkvolle Gewänder trugen, mit einer galanten Verbeugung zum Tanz auf. Diener huschten umher und reichten den Herrschaften Wein und Gebäck, während das Orchester einen langsamen Walzer anstimmte. In diesem Moment betraten der Hausherr und seine Gemahlin den Saal, sie nickten ihren Gästen zu und …
»Wir können die Wand nicht durchbrechen!«, riss sie eine männliche Stimme aus ihren Tagträumen. »Himmel, Emilio, wie oft denn noch? Schau dir die Pläne an: Das ist eine tragende Wand!«
»Ist sie nicht!«, kam die prompte Antwort aus dem Nebenzimmer. »Ich habe alles genau ausgemessen und laut meinen Zahlen ist das hier nicht die tragende Wand!«
»Ich werde noch wahnsinnig«, jaulte sein Gegenüber auf.Nur einen Moment später stürmte Onkel Antonio, Giannas Vater, in den Ballsaal, in der Hand einen schweren Vorschlaghammer. Bis auf seine Lippen waren sein Gesicht und seine dunklen Haare von einer weißen Staubschicht überzogen und hätte er nicht wütend die Augenbrauen zusammengezogen, hätte er Francesca an einen Clown erinnert. Als Antonio seine Nichte erblickte, glätteten sich jedoch die Runzeln auf seiner Stirn.
»Hallo, Francesca!«, begrüßte er sie und sein Clownsmund verzog sich zu einem breiten Lächeln.
Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Schnell, hilf mir mal! Ich brauche dringend ein Versteck für den Hammer. Ansonsten bringt es Emilio noch fertig, das komplette Haus einzureißen.«
Francesca erwiderte sein Lächeln. Sie mochte Onkel Antonio, seine Fürsorge und Herzlichkeit. Wenn sie sich einen Vater hätte aussuchen dürfen, dann hätte sie wahrscheinlich ihn gewählt.
Sie sah sich suchend um und deutete auf das Kopfende des Saals. »Wie wäre es im Kamin? Feuer wird darin sowieso nicht mehr gemacht.«
»Perfekt!«, jubelte Antonio und marschierte eiligen Schrittes auf den Kamin zu, in den mühelos ein Kleinwagen gepasst hätte. »Ich darf nur nicht vergessen, den Hammer später wieder herauszuholen! Der Kamin wird bald zugemauert.« Er ließ seinen Blick kritisch durch den Raum schweifen. »Hier wird sich viel verändern. Schon bald werden an dieser Stelle Touristen aus aller Welt frühstücken.«
Francescas Schultern sanken herab. »Muss das wirklichsein? Ich möchte mir gar nicht vorstellen, hier mit all den fremden Menschen zu wohnen.«
»Wir haben leider keine andere Wahl. Unsere Familie benötigt neben dem Restaurant dringend ein zweites finanzielles Standbein.« Er breitete seufzend die Arme aus. »Ansonsten werden wir all das hier verlieren und müssen Venedig verlassen. Kannst du dir deine Großmutter in Mestre in einer Mietwohnung vorstellen?«
Sie wusste, dass ihr Onkel dies nicht nur sagte, damit sie ihre Meinung änderte. Tatsächlich mussten immer mehr Venezianer ihre Heimatstadt wegen der gestiegenen Mietpreise und horrenden Lebenshaltungskosten verlassen. Viele Häuser in der Altstadt standen mittlerweile leer. Die meisten zogen in die Industriestadt Mestre, die Venedig am nächsten lag. Venedig dagegen wandelte sich immer mehr zu einer Totenstadt und wurde zu einem Freilichtmuseum für Touristen.
Sie deutete auf die verstreut am Boden liegenden Werkzeuge und Bauutensilien. »Ihr habt noch viel Arbeit vor euch, oder?«
»Es wird noch eine Weile dauern, bis wir fertig sind. Vor allen Dingen, weil dein Onkel als Handwerker völlig unfähig ist«, fügte er lauter als notwendig hinzu.
Das Sägen im Nebenzimmer brach ab und ein kleiner, korpulenter Mann mit Halbglatze stürmte in den Ballsaal. Genau wie bei Antonio war auch sein Gesicht mit einer weißen Staubschicht bedeckt. Er stemmte seine Hände in die nicht vorhandenen Hüften und wieder einmal fiel Francesca die Ähnlichkeit zwischen Onkel Emilio und seinem jüngstenSohn Matteo auf. »Das
Weitere Kostenlose Bücher