Die Schattenträumerin
»Mist, in zehn Minuten bin ich mit meiner Großmutter verabredet.« Sie stöhnte auf. »Und vorher muss ich noch im Restaurant vorbei.«
Sie schnappte sich die Box vom Tresen, verabschiedete sich hastig und eilte in Richtung Tür.
»Francesca«, hielt Baldini sie zurück. »Einen Moment noch.«
Er lief zu einem unscheinbaren Sekretär, zog eine Schublade auf und löste einen versteckten Mechanismus aus, sodass ein kleines Geheimfach aufsprang. Mit feierlicher Miene übergab er Francesca einen länglichen schwarz glänzenden Gegenstand, der mit fremdartigen Zeichen aus Perlmuttverziert war und zu beiden Seiten spitz zulief. Erst bei näherer Betrachtung erkannte Francesca, dass es sich um eine kleine Gondel handelte.
»Dies ist eine Traumgondel«, erklärte er ihr. »Sie kann dir vielleicht helfen, dich in angenehmere Träume zu geleiten. Sie ist sehr alt und die Schriftzeichen, die darauf eingraviert sind, entspringen keiner uns bekannten Sprache. Halte sie, wenn du schlafen gehst, fest in deiner Hand, dann wird er dich gar nicht erst durch die Dunkelheit jagen können.«
Sie wartete, dass er noch etwas hinzufügte. Woher hatte er diese Traumgondel? Und wie kam er darauf, dass sie Francesca helfen konnte? Bewundernd fuhren ihre Finger über die glänzende Oberfläche der Gondel. Sie war genauso glatt und elegant wie ihre große Schwester, in der sich die Acqua-alta-Bücher häuften. Die Traumgondel war kunstvoll gefertigt und sicherlich sehr wertvoll. Warum machte ihr Baldini ein so teures Geschenk?
Doch der Antiquar drehte sich wortlos um und schlurfte gebeugt zum Tresen zurück, als würde er eine schwere Last auf den Schultern tragen.
Francesca ließ die Traumgondel in ihre Tasche gleiten. »Danke!«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Als Francesca wieder ins Freie trat, atmete sie dankbar die frische Luft ein. Die Begegnung mit Baldini war mehr als merkwürdig verlaufen. Ihr Gespräch über böse Bücher, die Information, dass ihr Großvater auf der Suche nach seltenen Büchern gewesen war und dann noch dieses außergewöhnliche Geschenk … Auch hatte sie das Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen war.
Erst als sie in Richtung Markusplatz zum Treffen mit ihrer Großmutter eilte, fiel es ihr schlagartig auf: Der alte Antiquar hatte etwas gewusst, das er nicht hatte wissen können. Auch wenn sie Baldini von ihren Albträumen erzählt hatte, hatte sie ihm gegenüber jedoch nie erwähnt, dass sie Nacht für Nacht von jemandem durch die Dunkelheit gejagt wurde.
Atemlos erreichte Francesca den Markusplatz. Der Nieselregen hatte nachgelassen und die zwiebelförmigen Kuppeln der Basilika glänzten wie frisch gewaschen. Im Sommer war der Markusplatz immer so mit Touristen überfüllt, dass Francesca ihn nach Möglichkeit mied, doch heute lag er fast verlassen vor ihr. Zum ersten Mal wurde ihr die Pracht dieses Platzes und seine beeindruckende Größe wirklich bewusst. Die lang gestreckten Gebäude der Procuratie Vecchie und Procuratie Nuove, der Campanile, die Basilika und der Dogenpalast bildeten seit Jahrhunderten das Herz Venedigs. Diese Gebäude hatten so viele Zeitalter, so viele Menschenleben und so viele Schicksale überdauert – für einen Moment hatte Francesca das Gefühl, dass sie an diesem Ort lediglich ein Wimpernschlag von der Vergangenheit trennte. Nur mit Mühe konnte sie sich von dem überwältigenden Anblick losreißen. Sie war zehn Minuten zu spät und ihre Großmutter hasste Unpünktlichkeit!
Gerade als Francesca in den Arkadengang der Procuratie Nuove bog, dessen Decke zur Weihnachtszeit mit kleinen Lichtern geschmückt war, sah sie ihre Großmutter über den Markusplatz laufen. Wie ein Pendel tastete sich ihr Blindenstockin einem schwingenden Halbkreis vorwärts, während die Tauben ihm mit viel Geflatter und gurrenden Beschwerden auswichen. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Erstaunen beobachtete Francesca, wie ihre Großmutter, ohne langsamer zu werden, zwischen zwei Säulen hindurchtrat und sich in Richtung des Cafés wandte. Obwohl Fiorella erst im Alter erblindet war, fand sie sich in Venedig mühelos zurecht. Sie hatte Francesca erzählt, dass sie jeden Winkel der Stadt im Blut habe und sie den Blindenstock im Grunde überhaupt nicht benötige – er allerdings praktisch sei, wenn man damit einigen rücksichtslosen Touristen ans Schienbein schlagen konnte. Obwohl Francesca keinen Laut von sich gegeben hatte, blieb ihre Großmutter nun direkt vor ihr
Weitere Kostenlose Bücher