Die Schattenträumerin
stapelten sich in einem wilden Durcheinander Bücher aller Art. Sie waren offenbar alle einmal dem acqua alta, dem Hochwasser, ausgesetzt gewesen und der Antiquar bot sie nun für die Hälfte ihres einstigen Preises an. Während der Wintermonate wurde Venedig immer häufiger von acqua alta heimgesucht und ein Großteil der Altstadt wurde dabei unter Wasser gesetzt. Die Ladeninhaber hatten schon Routine darin, ihre Waren rechtzeitig in Sicherheitzu bringen – bei Büchern war dies allerdings schwierig. Francesca nahm ein Buch aus der Gondel. Die Seiten waren zu kleinen fortlaufenden Wellen verformt, als ob das Lagunenwasser dem Papier etwas von seiner Erscheinungsform überlassen hätte.
Sie schlenderte weiter durch den Laden und trat durch einen Perlenvorhang in ein kleines Separee, dessen Wände vollständig von Bücherregalen eingenommen waren. Unter Francescas Sohlen knirschte es. Erstaunt sah sie nach unten. Der Holzboden war mit einer dünnen Salzschicht bedeckt … Ein kleiner abgewetzter Läufer in der Mitte des Raumes war sogar so sehr mit Salz bestreut worden, dass er wie eingeschneit wirkte. Francesca runzelte die Stirn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wozu dieses viele Salz nützlich sein könnte. Aber vielleicht war Baldini auch nur ein Missgeschick passiert und nun war er auf der Suche nach einem Besen. Dies würde auch erklären, warum sie ihn nirgends im Laden entdecken konnte.
Das kleine Separee schien Horatio Baldinis Schatzkammer zu sein. Er besaß eine exquisite Büchersammlung. Es waren wertvolle, in Leder gebundene Erstausgaben, die sich insbesondere mit Zauberei, Beschwörungsformeln, Hexenkünsten, Geisterwesen und Übernatürlichem beschäftigten. Ein Regal weckte sofort Francescas Interesse. Hier standen ausschließlich alte Gruselromane. Sie zog eine Kurzgeschichtensammlung von H.P. Lovecraft hervor. Es war eine signierte Erstausgabe. Sie blätterte das Buch durch und ihr Blick fiel auf eine kursiv geschriebene Textstelle:
Ein Pfuhl voll Finsternis, tiefschwarz
Als sei’s ein Tiegel, darin Gifte kochen
Aus Blumen, im Mondlicht von Hexen gebrochen.
Ins Dunkel spähend, ob ich fände
Den Weg hinab, bohrte mein Blick
Sich in den Schlund und fiel direkt
Auf steile, glitschig glatte Wände
Welche mit zähem Schleim bedeckt,
Pechfinster, wie auch jener Schlick
Der an des Totenozeans Ufern leckt.
Francesca bekam eine Gänsehaut. Was für düstere Zeilen …
»Mit diesem Buch kannst du sicherlich nichts anfangen«, stellte eine Stimme neben ihr in unfreundlichem Ton fest.
Francesca zuckte so sehr zusammen, dass ihr beinahe das Buch aus den Händen glitt. Völlig lautlos war ein älterer Herr mit schütterem Haar neben sie getreten. Seine Augen waren von einem ausgeblichenen Hellblau, als hätte das Alter die Farbe darin ausgewaschen. Seine auffällig rote Lesebrille, die auf seiner Nasenspitze balancierte, konnte die Tränensäcke unter seinen Augen nicht vollständig verdecken. Francesca schätzte, dass der Mann im Alter ihrer Großmutter war. Irritiert sah Francesca zuerst zu ihm, dann auf das Buch. »Warum sollte ich mit diesem Buch nichts anfangen können?«
»Nun, du kannst scheinbar nicht lesen!«, meinte er abschätzig. »Ansonsten hätte dich das ›Geschlossen‹-Schild davon abgehalten, in mein Geschäft einzudringen und hier herumzuschnüffeln.«
»Ich habe Ihnen Ihr Mittagessen gebracht«, klärte sie den Antiquar hastig auf. »Ich helfe meiner Familie heute im Restaurant aus. Ich bin Francesca. Francesca di Medici.«
Sie streckte dem alten Mann mit einem freundlichen Lächeln ihre Hand entgegen, doch Baldini reagierte nicht darauf. Er starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an, als habe er soeben einen Geist gesehen.
»Di Medici?«, quetschte er schließlich mit rauer Stimme hervor. »Aber Fiorella hat doch nur Töchter. Ich dachte, alle ihre Enkel tragen andere Nachnamen?«
Auch wenn der Antiquar ein guter Freund ihres verstorbenen Großvaters gewesen war und er noch heute Kontakt zur Familie hatte, wunderte es Francesca nicht, dass Baldini diese Information überraschte. Denn obwohl ihre Großmutter insgeheim stolz darauf war, dass Francesca als einzige Enkelin den Familiennamen trug, schwieg sie sich gegenüber anderen doch meist darüber aus, dass ihre Tochter Isabella ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte.
Francesca dagegen hatte damit keine Probleme. »Meine Mutter hat meinen Vater nicht geheiratet, deswegen trage ich als einzige
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