Die Schattenträumerin
stehen.
»Du bist zu spät, Nonna«, stellte Francesca in triumphierendem Ton fest. »Zehn Minuten!«
Fiorella reckte ihr Kinn in die Höhe. »Du ebenfalls!«, gab sie in bissigem Ton zurück. »Dein Atem scheppert wie der Motor eines alten Lastkahns.«
Francesca schüttelte lachend den Kopf und hakte sich bei ihrer Großmutter unter.
»Außerdem ist es nicht meine Schuld, dass der alte Pfarrer Manolo die Messe überzogen hat, weil er so viel über Sünden referiert hat«, verteidigte sich Fiorella. »Heilige Madonna, der ist richtig besessen von diesem Thema. Manche von den Sünden, die er aufgezählt hat, waren mir nicht einmal bekannt – und dabei bin ich über achtzig Jahre alt.«
»Wenn das so ist, komme ich das nächste Mal vielleicht mit. Da kann ich sicher noch etwas lernen.«
»Untersteh dich, du Naseweis!«
Francesca öffnete die Tür und gemeinsam betraten sie das Caffè Florian. Gedämpftes Stimmengewirr und der Duft frisch gebrühten Kaffees schlug ihnen entgegen. Sofort eilte ein Ober in weißem Jackett und schwarzer Fliege auf sie zu.
»Einen ruhigen, diskret gelegenen Tisch, bitte«, näselte Fiorella in selbstbewusstem Ton. »Was ich und meine Enkelin zu besprechen haben, sollte in Ihrem Etablissement nicht gleich die Runde machen.«
Eine Augenbraue des Obers schnellte erstaunt nach oben, doch wie gewünscht führte er sie an einen Tisch im hinteren Teil des Cafés. Francesca ließ sich auf die mit rotem Samt bezogene Bank sinken und bewunderte die vielen Spiegel, den Stuck und die zahlreichen Gemälde. Alles machte einen so noblen Eindruck, dass sich Francesca unweigerlich fehl am Platz fühlte. Ganz im Gegensatz zu ihrer Großmutter. Sie trommelte mit ihren Fingern ungeduldig auf den kleinen Marmortisch, während der Ober ihnen die Spezialitäten des Hauses unterbreitete.
»Ich möchte einen ombre«, fiel Fiorella ihm schließlich ins Wort. Korrekt übersetzt hatte sie gerade einen »Schatten« bestellt, in Venedig war ombre jedoch das Codewort für ein Glas Wein. »Und nicht so ein süßliches Weibergesöff, wenn ich bitten darf! Ein guter Wein muss so trocken sein, dass sich einem die Geschmacksknospen auf der Zunge zusammenziehen!«
»Oma«, zischte Francesca ihr zu. »Der Arzt hat doch gesagt, du sollst keinen Wein trinken!«
Fiorella seufzte gequält auf. »Na schön. Einen venezianischen Rosentee, bitte.«
»Für mich auch«, schloss sich Francesca an.
»Was für einen Kuchen möchtest du bestellen?«, fragte Fiorella.
»Gar keinen, vielen Dank!« Tante Viola hatte ihr zum Mittagessen so viele Köstlichkeiten aufgetischt, dass sie immer noch satt war.
»Aber du musst etwas essen!«
»Ich habe wirklich keinen Hunger, Nonna.«
Fiorella wandte sich dem Ober zu. »Meine Enkelin nimmt ein Stück von der Schokoladencremetorte.«
Francesca stöhnte auf. Das war wieder einmal typisch – wenn sich ihre Großmutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen.
Als der Ober außer Hörweite war, konnte Francesca ihre Neugier nicht mehr zurückhalten.
»Was willst du mir denn nun sagen?«, platzte es aus ihr heraus. Nach ihrer schlaflosen Nacht und der seltsamen Begegnung mit Horatio Baldini hoffte sie, dass wenigstens ihre Großmutter eine gute Nachricht für sie hatte. Als sie sah, wie sich Fiorellas Gesicht jäh verdüsterte, verflüchtigte sich jedoch ihre Hoffnung.
»Ich wünschte, ich hätte mir mit dem, was ich dir nun sagen muss, noch etwas Zeit lassen können. Du bist noch so unglaublich jung. Zu jung, um dich mit all dem zu belasten. Doch ich habe keine andere Wahl und muss dich in das Geheimnis einweihen. Außer mir weiß niemand in unserer Familie darüber Bescheid. Dein Großvater hat mir kurz vorunserer Heirat davon erzählt und glaube mir, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie fantastisch diese Geschichte in deinen Ohren klingen wird.«
»Was denn?«
»Was ich dir nun anvertrauen werde, muss unbedingt unter uns bleiben. Wie ich dir schon gestern gesagt habe, darf auch niemand aus der Familie davon erfahren«, beschwor Fiorella ihre Enkelin. »Besonders deiner Mutter solltest du nichts verraten.« Erneut seufzte sie gequält auf. »Sie ist ja grundsätzlich anderer Meinung als ich«, fügte sie kaum hörbar hinzu.
Francesca hielt es für klüger, sich aus dem permanent schwelenden Streit zwischen Fiorella und Isabella herauszuhalten. Glücklicherweise brachte in diesem Moment der Ober ihre Bestellung, sodass sie um einen Kommentar
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