Die Schattenträumerin
gefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich lese sehr viele Bücher dieser Art.«
»Wieso?«
»Es ist schwer zu beschreiben.« Sie zog die Schultern in die Höhe. »Es ist dieses starke Gefühl, das sie beim Lesen wecken. Bei keiner anderen Art von Geschichten kann ich so intensiv die Gefühle der Hauptperson empfinden. Es ist, als ob man mit ihr verschmilzt. Man fühlt exakt, was sie fühlt.«
»Die Angst.« Er nickte zustimmend. »Auch Lovecraft wardavon fasziniert: Die älteste und stärkste Emotion des Menschen ist Furcht, und die älteste und stärkste Form der Furcht ist die Angst vor dem Unbekannten«, zitierte er versonnen.
Der alte Antiquar sprach damit genau das aus, was Francesca schon seit Langem fühlte. Die stärkste Form der Furcht ist die Angst vor dem Unbekannten … Sie wollte ihrem nächtlichen Verfolger aus ihren Albträumen endlich ins Gesicht sehen! Kein Monster konnte so schlimm sein wie die allumfassende Finsternis, die ihren Jäger verhüllte.
»Ich glaube, wenn ich meine größte Furcht kennen würde, würden die Albträume besser werden. Deshalb suche ich in den Büchern nach einer Ursache. Wenn man seine Angst kennt, scheint sie weniger gefährlich zu sein.« Sie sah zu Boden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fortfuhr. »Aber bis dahin liege ich jede Nacht wie ein zitternder Angsthase in meinem Bett.«
»Blödsinn«, widersprach Baldini ihr mit überraschender Heftigkeit. »Du bist nicht voller Furcht. Ich sehe in deinen Augen Aufrichtigkeit und Mut.«
»Mut?«
»Du liest diese Bücher, weil du dich deinen Dämonen stellen möchtest. Die meisten Menschen weichen ihrer Angst aus, weil es ein unangenehmes Gefühl ist, das man vermeiden möchte. Du dagegen suchst sie. Das ist, als ob sich einer, der panische Angst vor Spinnen hat, freiwillig eine Vogelspinne auf die Hand setzen würde.«
Zweifelnd sah Francesca ihn an. So hatte sie das noch nie gesehen.
»Aber funktioniert hat mein Plan bisher leider nicht,selbst wenn die Geschichte noch so gruselig war«, erzählte sie und konnte nicht verhindern, dass Bitterkeit in ihrer Stimme lag. »Nur manchmal ist es so, als würde das Böse aus der Geschichte herauskommen und nach mir greifen. Wenn ich das Buch schließe und das Licht ausmache, habe ich manchmal das Gefühl, als stünden all die Vampire, Monster und Dämonen im Dunkeln neben meinem Bett. Als sei das Böse aus dem Buch plötzlich real geworden.« Francesca schwieg einen Moment, dann schüttelte sie lachend den Kopf. »Das ist natürlich Unsinn! Wahrscheinlich habe ich einfach zu viel Fantasie.«
»Das ist kein Unsinn – im Gegenteil. Es liegt an dem, was in diesen Büchern steht.« Er legte die Stirn in Falten und sah Francesca mit ernster Miene an. »Worte sind mächtig, das hast du gespürt. Es gibt keine gemeinere und hinterlistigere Waffe auf Erden. Worte lassen uns äußerlich unversehrt und schneiden dennoch tief in unsere Seele, sie können einen Geist vergiften und das Böse in ihm wecken. Denn jedes Buch enthält die Seele desjenigen, der es niedergeschrieben hat – und du kannst dir nicht vorstellen, wie viele von Bösartigkeit zerfressene Wesen es dort draußen gibt.«
Francesca blinzelte den Antiquar verwirrt an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen …«
Er ergriff ihre Hand und kam ihr so nahe, dass sie die kleinen Äderchen in seinen Augen sehen konnte. »Es gibt böse Bücher, Francesca. Bücher, in denen man niemals lesen darf. Sei vorsichtig, Bücher können dein Ende sein!« Seine Stimme brach ab. Er ließ ihre Hand los und sank mit einemschweren Ächzen in seinen Stuhl zurück, als hätte ihn seine Rede erschöpft.
Francesca starrte den Antiquar mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meinte er mit den bösen Büchern etwa die mittelalterlichen Zauberbücher im Separee? Aber das war doch alles nur Aberglaube, Wunschdenken und Illusion! Nicht eine Sekunde lang glaubte Francesca an die Wirkung oder Macht solcher Bücher.
Aber Baldini war alt, vielleicht litt er an Demenz und reimte sich deswegen so wirres Zeug zusammen? Auf alle Fälle, schoss es Francesca durch den Kopf, schien er nicht mehr alle Karaffen im Hirnregal zu haben.
Auch Baldini fiel offenbar auf, wie seltsam er sich gerade verhalten hatte. Er räusperte sich geräuschvoll. »Du solltest jetzt gehen, es wird Zeit für mein Mittagessen. Ich muss schon bald wieder den Laden öffnen.«
»Ist es schon so spät?« Erschrocken sah Francesca auf ihre Uhr.
Weitere Kostenlose Bücher