Die Schattenträumerin
herumkam. Kaum war er wieder verschwunden, holte Fiorella einen Flachmann aus ihrer Tasche. Sie befeuchtete ihren Zeigefinger mit Spucke, steckte ihn in den heißen Tee und befüllte die Tasse bis zum Rand mit dem durchsichtigen Inhalt des Flachmanns. Durch diesen Trick war sie trotz ihrer Blindheit in der Lage, sich ohne fremde Hilfe etwas einzuschenken.
»Ist das etwa Alkohol?«, fragte Francesca entgeistert. »Da hättest du ja gleich den Wein bestellen können. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat!«
»Ach, so ein Quacksalber, der hat doch keine Ahnung«, winkte Fiorella ab und zuckte mit einem breiten Grinsen die Schultern. »Wenn ich überhaupt je unbesorgt einen Schluck Alkohol trinken konnte, dann jetzt. Das ist der einzigeVorteil am Altsein – alles, was bisher verboten war, kann man jetzt machen. Letztens habe ich sogar versucht, mit dem Pfeiferauchen anzufangen, nur so zum Spaß.« Ihre Großmutter verzog das Gesicht. »Hat aber eklig geschmeckt.«
»Wenn du meinst.« Francesca seufzte ergeben. »Was ist denn nun mit diesem ominösen Geheimnis, das ich niemandem verraten soll?«
Anstatt einer Antwort nippte Fiorella erst einmal in aller Seelenruhe an ihrem Tee. Sicherlich machte es ihr Freude, Francesca derart auf die Folter zu spannen.
»Unsere Familie hat einen Fluch auf sich geladen, Kind«, sagte sie schließlich mit unheilvoller Stimme. »Einen bösen Fluch!«
Francesca war froh, dass Fiorella nicht sehen konnte, wie ihre Augenbrauen zweifelnd in die Höhe schossen. Ein Fluch? Sie war zwar schon einiges von ihrer Großmutter gewohnt, doch solche abergläubischen Äußerungen waren selbst für sie außergewöhnlich.
»Sieh mich nicht so skeptisch an«, keifte Fiorella. »Ich spüre deine ungläubigen Blicke wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut, junges Fräulein!« Sie atmete tief durch und ihre Gesichtszüge glätteten sich wieder.
»Einst waren die Medicis in Venedig eine wichtige Familie, die durch ihre Bankgeschäfte immer mehr an Einfluss gewann, doch urplötzlich – von einem Tag auf den anderen – erlosch ihr Stern, die Familie verarmte. Es blieb nichts als der große Name. Niemand kann dir sagen, wie es dazu gekommen ist.«
Sicher, das war bedauerlich, aber Francesca bezweifelte, dass deswegen gleich ein Fluch auf der Familie lasten sollte.
»Erinnere dich, was uns allein in den letzten Jahren zugestoßen ist«, fuhr Fiorella fort. »Unser stetig wachsender Schuldenberg, das Feuer im Restaurant vor zehn Jahren, meine Blindheit, Giannas Gehbehinderung, Cecilias Selbstmord und natürlich der Mord an deinem Großvater …«
»Mord?«, unterbrach Francesca sie entgeistert. »Wieso denn Mord? Ich dachte, es war ein Unfall!«
»Das ist die offizielle Version der Polizei, aber daran glaube ich nicht.« Fiorella schüttelte entschieden den Kopf. »Dein Großvater und sein Freund Horatio Baldini haben damals gemeinsam nach einem seltenen Buch gefahndet. Leonardo war wie besessen davon. Er meinte, wenn er dieses Buch endlich fände, würde alles gut werden. Doch er hat mir nie erzählt, um welches Buch es sich dabei handelte oder warum es so wichtig für ihn war. Wenn ich ihn danach gefragt habe, meinte er, es wäre zu meiner eigenen Sicherheit besser, wenn ich so wenig wie möglich darüber wüsste. Hätte er geahnt, dass er so früh und überraschend stirbt, hätte er wohl anders gehandelt. An jenem Abend, als dein Großvater …« Fiorella stockte für einen Moment und räusperte sich. »An jenem Abend war er mit Horatio verabredet. Er war in Hochstimmung, wollte mir jedoch nicht sagen, worum es ging – es sollte eine Überraschung werden. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, hat er mir einen Kuss gegeben und gesagt, dass schon morgen ein neues Leben für uns beginnen werde.«
Fiorella war immer leiser geworden. Die Erinnerung anden Tod ihres Mannes war durch ihre Erzählung wieder schmerzlich lebendig geworden. Francesca ergriff tröstend die Hand ihrer Großmutter und um Fiorellas Mund flackerte ein Lächeln.
»Francesca, ich bin mir absolut sicher, dass Baldini das Buch gefunden hatte! Aus keinem anderen Grund wäre Leonardo so guter Laune gewesen. Wahrscheinlich war es sehr wertvoll, ansonsten hätte er mir nicht solche Versprechungen gemacht. Was ist, wenn Baldini das Buch nicht mehr hergeben wollte? Oder er einen höheren Preis verlangt hat und die beiden darüber in Streit geraten sind?« Fiorella hatte sich so in Rage geredet, dass ihre Wangen zu glühen
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