Die Schattenträumerin
selbst.«
U nter dem Torbogen der Calle della piccolezza blieb Francesca atemlos stehen und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Sie hatte die anderen Auslieferungen im Eiltempo hinter sich gebracht, doch nun war es wichtig, dass sie ruhig und überlegt handelte.
Da Horatio Baldini nur drei Mal in der Woche das Mittagessen geliefert bekam, war der gestrige Tag tatenlos verstrichen. Wie eine Ewigkeit hatte er sich für Francesca in die Länge gezogen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Moment, in dem sie Baldini zum nächsten Mal gegenübertreten würde. Wie sollte sie sich verhalten? Sollte sie versuchen, ihn vorsichtig auszuhorchen oder ihn lieber sofort darauf ansprechen, wie er in den Besitz der Traumgondel gekommen war?
Francesca schloss die Augen und lehnte sich für einen Moment an die kühlenden Steine des Torbogens. In was für eine Geschichte war sie da nur hineingeraten …
Als am gestrigen Abend ihre Mutter angerufen hatte, war sie für einen Moment versucht gewesen, ihr alles anzuvertrauen. Natürlich erinnerte sie sich an ihr Versprechen, niemandem etwas zu verraten, aber übertrieb es Fiorella mit der Geheimhaltung nicht ein wenig? Allzu gerne hätte Francesca ihrer Mutter von dem Fluch erzählt, der angeblich auf ihr lastete, dem möglichen Mord an ihrem Großvater und ihrem Plan, Baldini auszuhorchen. All das lastete schwer auf ihr. Aber es gab auch eine gute Neuigkeit: Dank der Traumgondel war sie tatsächlich von jeglichem Albtraum verschont geblieben. Francesca hatte das Gefühl gehabt, dass sie gleich platzte, wenn sie sich nicht endlich jemandemanvertrauen konnte. Nicht zuletzt, da ihre Großmutter der festen Überzeugung zu sein schien, in nächster Zeit zu sterben. Schon allein beim Gedanken daran schnürte sich ihre Kehle zu. Nun war ihr auch klar geworden, warum Fiorella am Tag ihrer Ankunft dieses seltsame Gespräch über das Heiraten und Kinderkriegen hatte führen wollen. Ihre Großmutter ging tatsächlich davon aus, dass sie nicht mehr lange genug lebte, um diese Dinge gemeinsam mit ihrer Enkelin zu erleben. Francesca klammerte sich an die Hoffnung, dass sich Fiorella täuschte und ihre Todesvision nicht mehr als ein schlechter Tagtraum gewesen war. Doch gerade ihre Liebe zu ihrer Großmutter hatte sie schließlich davon abgehalten, ihrer Mutter alles zu erzählen. Francesca hatte es Fiorella versprochen – basta!
Abgesehen davon war ihre Mutter sowieso mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. Begeistert hatte sie Francesca berichtet, dass die führenden Angestellten ihrer Firma in einem Schweizer Nobelhotel gemeinsam Silvester feierten und sie dank ihrer guten Arbeit überraschend dazu eingeladen worden war. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und malte sich während des Telefongesprächs permanent aus, was diese Einladung für ihre Karriere bedeuten konnte. Francesca dagegen schoss es durch den Kopf, wie ungeheuer praktisch es für ihre Mutter sein musste, dass sie ihre Tochter nach Venedig abgeschoben hatte.
Francesca atmete tief durch, packte entschlossen die Transportbox und lief auf die Tür des Antiquariats zu. Erst als sie nach der Klinke greifen wollte, bemerkte sie, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Francesca runzelte dieStirn. Seltsam, bei dieser Kälte, die sich momentan wie eine Eisdecke über Venedig gelegt hatte, achtete eigentlich jeder peinlich genau darauf, Fenster und Türen geschlossen zu halten!
Sie versetzte der Tür einen leichten Stoß. Wie schon bei ihrem ersten Besuch schwang sie mit einem widerwilligen Ächzen auf.
»Signore Bal…«
Die Worte blieben Francesca im Hals stecken. Die Transportbox fiel ihr aus den Händen und landete auf dem Boden.
Das Antiquariat war nicht mehr wiederzuerkennen. Sämtliche Holzregale waren umgekippt worden, die Kristallkaraffen, Büsten und Statuen waren zu einem einzigen bunten Scherbenhaufen verschmolzen und aus Baldinis Sekretär waren die Schubladen herausgerissen worden. In der Mitte des Raumes lag die Gondel umgekippt auf dem Boden, als wäre sie in einer Sturmflut aus Acqua-alta-Büchern gekentert. Was war hier nur geschehen? Kein normaler Einbrecher hätte solch eine Verwüstung hinterlassen. Es sah eher so aus … als habe jemand in blinder Wut das komplette Antiquariat durchsucht. Mit angehaltenem Atem lauschte Francesca in die unheimliche Stille. Es schien niemand mehr hier zu sein.
Schritt für Schritt tastete sie sich durch das Chaos und ging neben der Gondel in die Knie.
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