Die Schattenträumerin
innerhalb des geheimen Verstecks befand. Francesca runzelte die Stirn. In Anbetracht des Aufwandes und der Kosten für diesen außergewöhnlichen Safe hatte sie erwartet,dass sich in seinem Innern wertvolle Münzen oder Schmuck befinden würden. Doch nur ein einziger Gegenstand lag darin.
Ein Buch.
Es war in schwarzes Leder gebunden und die scharlachroten Buchstaben schienen den Leser regelrecht angreifen zu wollen. Francesca hatte den Titel noch nie gehört, doch er ließ sie unwillkürlich erschaudern. Ohne dass sie sich dessen bewusst war, öffnete sich ihr Mund und sie sprach ihn mit wispernder Stimme aus: »Necronomicon.«
Francesca wich zurück. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie, dass dies kein gewöhnliches Buch war. Ihm haftete etwas … Lebendiges an. Eine machtvolle Aura lag über ihm wie der Schatten eines Raubtieres, das darauf lauerte, seine ahnungslose Beute anzuspringen.
»Hast du es?« Baldinis keuchende Stimme riss sie aus ihrer Starre. »Dann verschließe die Luke und bring es her!«
Francesca fuhr sich über die Augen und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nur ein Buch! Wieso sollte sie sich vor beschriebenem Papier fürchten? Das war doch lächerlich!
Beherzt griff sie zu. Eine eisige Kälte schien ihre Fingerspitzen hinaufzukriechen, als ihre Hand das Buch berührte. Wie Baldini es ihr aufgetragen hatte, schloss sie die Luke und legte den Läufer darüber, ehe sie zu ihm zurückeilte. Er presste immer noch die Hand auf seine Brust, Schweiß perlte von seiner Stirn.
»Ich … möchte mich aufsetzen!«
Sie nahm seinen Arm und half ihm, sich aufrecht an dasRegal zu lehnen. Sofort schien ihm das Atmen leichter zu fallen.
Doch sein Gesicht hatte mittlerweile jegliche Farbe verloren. Es wirkte so wächsern wie die Kerzen in der Kirche, die Francescas Großmutter jeden Sonntag zum Gedenken der Toten anzündete. Francesca zögerte nicht mehr länger, hob ihr Handy auf und tippte die Nummer des Notrufs.
»Der Arzt und die Polizei sind in wenigen Minuten hier!«, informierte sie Baldini. Sie konnte nur hoffen, dass das Krankenboot so schnell wie möglich eintraf. Wenn sie nur etwas für Baldini hätte tun können! Sie fühlte sich so hilflos.
Er saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Fast schien es ihr, als wäre er schon zu benommen, als dass er ihre Worte mitbekommen hätte. Doch dann riss er so unvermittelt die Augen auf, dass Francesca zusammenzuckte.
»Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, murmelte er. »Ich muss dich in das Geheimnis einweihen, ehe es zu spät ist.«
Ein Geheimnis? Wollte er Francesca vielleicht etwas über den Tod ihres Großvaters mitteilen oder wenigstens, wie er in den Besitz der Traumgondel gekommen war? Ihre Augen blitzten neugierig auf, wofür sie sich sofort selbst verachtete. Eigentlich hätte sie ihm sagen müssen, dass er sich schonen solle und er ihr auch noch später dieses Geheimnis anvertrauen konnte. Aber was, wenn er tatsächlich der Mörder ihres Großvaters war? Musste sie dann nicht diese Möglichkeit nutzen, um ihm einige Informationen zu entlocken? Sie musterte Baldini voller Spannung.
»Geht es vielleicht um das Buch, das ich holen sollte?«
Francesca zeigte mit dem Kopf in Richtung des Necronomicons. Sie hatte es auf einem Stuhl abgelegt, als sie Baldini geholfen hatte, sich aufzusetzen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie erleichtert sie in diesem Augenblick gewesen war, das Buch aus der Hand legen zu können.
»Novalis hat einmal gesagt, dass jedes Wort ein Wort der Beschwörung ist«, sagte Baldini. »Welcher Geist ruft – ein solcher erscheint. Er hatte recht, Francesca! Wahrscheinlich wusste er gar nicht, wie recht er damit hatte …«
Baldini fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
»Schriftsteller erzählen, dass sich manchmal eine Geschichte wie von alleine, ohne ihr eigenes Zutun schreibt. Als würde jemand hinter ihnen stehen und ihnen die Geschichte diktieren. Und genau das kann geschehen, Francesca. Manchmal finden böse Wesen einen Zugang zu unserer Wirklichkeit und flüstern jemandem Worte ein, die nicht für unsere Welt bestimmt sind. Es gibt Bücher, in denen so machtvolle Worte stehen, dass sie unsere Realität verändern können. Bücher wie das Necronomicon.«
Francesca erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen mit Baldini, als er ihr schon einmal von den bösen Büchern erzählt hatte. Damals hatte sie ihn für verrückt gehalten. Aber nun hatte sie es gesehen. Das
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