Die Schattenträumerin
Necronomicon. Wieder huschten ihre Augen zu dem Buch hinüber. Wie um Baldinis Erzählung zu bestätigen, schien es für einen Moment von einer Art schwarzen Nebel eingehüllt zu sein.
Sie blinzelte irritiert.
Der Nebel war verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich nur getäuscht …
»War es das Necronomicon, nach dem Sie und mein Großvater gesucht haben?«, wagte sie sich vor.
Gespannt hielt sie den Atem an. Immerhin hatte Baldini damals bei der Polizei behauptet, dass er und Leonardo niemals gemeinsam nach einem Buch geforscht hätten. Würde Fiorella nun endlich die Antwort bekommen, nach der sie so lange gesucht hatte?
Baldini zögerte einen quälend langen Moment, dann nickte er.
»Jahrelang fahndete Leonardo auf eigene Faust danach. Schließlich kam er in meinen Laden und fragte mich, ob ich ein Buch für ihn finden könnte, von dem es nur ein einziges Exemplar gab und das vor Jahrhunderten in Venedig verschollen war. Es war eine fast unlösbare Aufgabe, selbst für einen erfahrenen Bücherjäger wie mich. Über ein Jahrzehnt haben wir zusammen Archive durchforstet, sind jedem noch so winzigen Hinweis nachgegangen und haben private Sammler in ganz Europa kontaktiert.« Die Erinnerung ließ Baldinis Augen aufleuchten. »Es war eine herrliche Zeit! Wir waren wie zwei kleine Jungen auf einer geheimnisvollen Schnitzeljagd. Ehe wir uns versahen, waren wir Freunde geworden und schließlich hatte Leonardo mir sogar von seinen Albträumen, der Traumgondel und dem Fluch erzählt … Aber weißt du, was das Unglaubliche daran ist?« Er lachte bitter auf, worauf er sich sofort wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht an sein Herz fasste. »Schließlich hat das Necronomicon uns gefunden! Ein Bekannter vonmir, er war Kanalarbeiter, kam eines Tages in meinen Laden und bot es mir zum Kauf an. Er und seine Kollegen hatten einen Rio ausgeschachtet und inmitten des schwarzen Schlammes, den sie vom Grund des Kanals holten, fand er das Buch. Eine halbe Ewigkeit lag es begraben im venezianischen Lagunenschlick und es war trotzdem so gut wie unversehrt – ich konnte mein Glück kaum fassen. Aber schon kurz nachdem ich meinem Bekannten das Buch abgekauft hatte und es zum ersten Mal in Augenschein nahm, verflog mein Glücksgefühl.« Baldinis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Plötzlich spürte ich es. Die Gefahr, die von diesem Buch ausgeht. Es ist … böse. Du hast es auch gefühlt, oder? Ich habe es in deinen Augen gesehen.«
Francesca nickte und schlang fröstelnd die Arme um sich.
»Ist es ein Buch mit bösen Zaubersprüchen?«, fragte sie, nur um die Stille zu füllen.
Er griff nach ihrer Hand, dieses Mal jedoch sanft und vorsichtig.
»So versteh doch, es geht nicht allein darum, was darin niedergeschrieben ist – das Buch selbst ist böse!«, wiederholte er eindringlich. »Ich spürte die Gefahr, die von ihm ausging, undwollte es vernichten, doch dein Großvater hielt mich davon ab. Erst an jenem Abend gestand er mir, dass er dieses Buch nur aus einem einzigen Grund so verzweifelt gesucht hatte. Leonardo hatte anscheinend die Hoffnung, dass sich der Fluch, der auf der Medici-Familie liegt, mit dem Necronomicon wieder aufheben lässt. Er wollte die Kräfte des Buches nutzen. Er meinte, es wäre die Bestimmung des Buches, von einem Medici befohlen zu werden.« Baldinistockte. Er musste sich sichtlich dazu überwinden, weiterzusprechen. Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »Ich wollte ihm das Buch wieder abnehmen, es kam zu einem Gerangel. Als ich Leonardo das Necronomicon entreißen konnte, rannte ich zur Tür, die zum Kanal führt, um mit meinem Boot zu fliehen, doch er setzte mir nach. Mit einem verzweifelten Stoß versuchte ich mich von ihm freizumachen. Dabei rutschte er aus, stieß sich den Kopf und fiel in den Kanal.«
Baldini hielt Francescas Hand immer noch in seiner und nun presste er sie inbrünstig an seine Brust. »Du musst mir glauben, Francesca, es war ein Unfall! Leonardo war mein bester Freund. Ich hätte ihn doch niemals absichtlich …« Der Rest seines Satzes ging in einem Schluchzen unter.
Francesca spürte, wie sich sein Körper unter einer erneuten Schmerzattacke zu verkrampfen begann. Baldini durfte sich nicht so sehr aufregen! Wo blieb nur dieses elende Krankenboot? Oder die Polizei?
Sie sah ihm in die Augen. »Ich glaube Ihnen«, erwiderte sie mit sanfter Stimme. »Bitte, beruhigen Sie sich wieder. Ich glaube Ihnen, dass es nur ein Unfall war!«
Sie spürte, dass er die
Weitere Kostenlose Bücher