Die Schattenträumerin
Augen Francesca frösteln. »Und was soll damit gemeint sein? Was für ein Fluch soll auf mir liegen?«
»Es sind deine Albträume, Francesca.«
Sie starrte ihre Großmutter wie vom Donner gerührt an. Woher wusste sie von ihren Albträumen? Hatte Gianna etwa ihr Versprechen gebrochen und Fiorella davon erzählt?
»Es sind keine normalen Albträume, das hast du wahrscheinlich schon selbst bemerkt. Du kannst in ihnen klar denken, riechen, Schmerzen empfinden und egal, was du tust, es gelingt dir nicht, aufzuwachen. Du bist in diesem Traum gefangen.«
Sie machte eine Pause, ehe sie mit besorgter Stimme fragte: »Hat er dich schon gefunden?«
Francesca schluckte schwer. »Letzte Nacht.«
Fiorella zog scharf die Luft ein. Sie hielt Francescas Hand so fest umklammert, dass sie ihr fast die Finger zerquetschte.
»Es wird schlimmer werden«, sagte sie schließlich in die Stille hinein. »Noch nicht heute oder morgen. Er hat Zeit.«
»Was … was wird dann geschehen?«
Francesca war sich nicht sicher, ob sie die Antwort tatsächlich wissen wollte. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie ihre Großmutter, die mit sich zu ringen schien.
»Er fängt an, dich zu quälen«, antwortete sie. »Er fügt dir Schmerzen zu. Schlimme Schmerzen. Ihre Folgen wirst du auch noch in der Realität spüren. Manchmal war Leonardo am nächsten Morgen nicht in der Lage, das Bett zu verlassen. Am Ende wachte er sogar mit blutenden Wunden auf.«
Sofort erinnerte sich Francesca an ihren Sturz während des Albtraums. Schmerzte ihr Knöchel heute Morgen nicht auch nach dem Aufwachen?
»Was genau in seinen Träumen geschah, wollte mir Leonardo nie erzählen. Ich schätze, er wollte mir die grauenvollen Einzelheiten ersparen. Auch so musste ich Nacht für Nacht miterleben, wie sehr er zu leiden hatte. Dein Großvater hat dies all die Jahre nur verkraftet, weil er ein willensstarker Mann war, entschlossen, diesem Fluch die Stirn zu bieten. Doch auch er hatte schwache Momente, in denen er fast verzweifelte. Oft war er sehr niedergeschlagen. Manchmal ging er tagelang nicht aus dem Haus, als ob ihn die nächtliche Bedrohung selbst bis in die Realität verfolgte. Besonders nach Einbruch der Dämmerung verließ er nur dann den Palazzo, wenn es absolut notwendig war.«
Francesca presste die Augen zusammen und hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, dass dies ebenfalls nur ein schlechter Traum war und sie jeden Moment wieder erwachte. Bisher hatte sie zumindest die Hoffnung gehabt, dass ihre Albträume irgendwann weniger und schließlich ganz verschwindenwürden – wie bei jedem anderen Kind. Was sie nun erfahren hatte, war schlimmer, als sie sich je hätte vorstellen können. Wie konnte sie jemals wieder in einen wohligen Schlaf versinken, da sie nun wusste, was für schreckliche Dinge sie dort erwarteten? Laut Fiorellas Erzählung war ihre nächtliche Flucht durch die Dunkelheit wohl noch harmlos im Gegensatz zu dem, was sie in Zukunft im Traum erleben musste.
Wut loderte in ihr auf. Wieso sollte ausgerechnet sie von diesem unsinnigen Fluch getroffen worden sein? Sie hatte niemandem etwas getan. Nur, weil sie Medici hieß, sollte sie für immer zu diesen Albträumen verdammt sein? Sie lebte ja nicht einmal hier in Venedig – sie gehörte nicht hierher!
»Das ist nicht fair«, presste sie zornig hervor.
»Nein, das ist es nicht.«
Das Mitleid in Fiorellas Stimme fachte Francescas Zorn nur noch mehr an. Ihr Kopf fuhr herum. »Weißt du überhaupt, dass Mama mich wegen dieser blöden Albträume sogar zu einem Kinderpsychologen geschickt hat, der ihr die Schuld dafür geben wollte? Jahrelang musste ich diese Sache hüten wie ein dunkles Geheimnis und nun erfahre ich, dass du die ganze Zeit über davon wusstest! Du hättest mit mir darüber reden und mir helfen können. Wieso hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«
»Warum hätte ich das tun sollen, Kindchen? Was hätte es geändert? Du hättest nur noch mehr Angst davor bekommen, was dich unausweichlich erwarten wird.«
Francesca wusste, dass sie recht hatte. Ein Teil von ihrwünschte sich sogar, dass Fiorella ihr niemals die Wahrheit erzählt hätte.
»Diese Albträume können einen Menschen in den Wahnsinn treiben«, fügte Fiorella kaum hörbar hinzu.
Schlagartig wurde ihr klar, was ihre Großmutter damit sagen wollte. Ihre Worte wirkten auf Francesca so ernüchternd wie eine kalte Dusche. Ihre Wut war plötzlich wie weggeblasen.
»Cecilia«, stammelte sie. »Sie war deine
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