Die Schattenträumerin
versteckt gehalten hatte, nicht zu erwähnen. Die Polizei hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Wenn Francesca ihnen von einem »bösen Buch« berichtet hätte, hätten sie wahrscheinlich nur gelacht und es ihr am Ende sogar abgenommen. Als sie während der Vernehmung aus den Augenwinkeln beobachtete, wie ein Polizist das Separee nach Spuren durchsuchte und misstrauisch das viele Salz auf dem Boden musterte, hatte Francesca unwillkürlich die Luft angehalten. Glücklicherweise hatte er die geheime Luke im Boden nicht entdeckt. Francescahätte nicht gewusst, was sie dazu hätte sagen sollen. Vor allem, da sich Baldinis Schlüssel für das Schloss immer noch in ihrer Hosentasche befand.
Als die Polizei sie endlich hatte gehen lassen, war sie wie in Trance heimgekehrt und hatte sich zu ihrer Großmutter geflüchtet.
Francesca stieß geräuschvoll den Atem aus. Ihr Leben war völlig aus den Fugen geraten. Als sie vor ein paar Tagen in Venedig angekommen war, war noch alles in Ordnung gewesen. Gut, wenn man die Albträume bedachte, war es vielleicht nicht in bester Ordnung gewesen, aber auf alle Fälle hatte sie sich damit arrangiert. Nun hatte sie einen Toten gesehen und ein unheimliches Zauberbuch am Hals. Schlimmer noch: Offenbar gab es jemanden, der dieses Buch unbedingt haben wollte und alles daransetzte, es zu bekommen.
»Trink etwas Tee, Kindchen«, ermunterte Fiorella sie. »Du zitterst ja wie Espenlaub!«
Francesca bezweifelte, dass Tee ihr gegen die innere Kälte helfen konnte, doch sie griff gehorsam nach ihrer Tasse auf dem Glastisch. Ihr Blick fiel auf das Buch, das direkt daneben lag. Als der Notarzt und die Sanitäter ins Antiquariat gestürmt waren, hatte Francesca das Necronomicon geistesgegenwärtig in der Transportbox versteckt und so aus dem Antiquariat geschmuggelt. Obwohl es Baldinis letzter Wunsch gewesen war, dass Francesca das Buch in Sicherheit brachte, war sie sich vorgekommen wie eine Diebin. Sie nippte an dem Tee und zuckte schmerzhaft zusammen.
»Verdammt, ist der heiß!«, fluchte sie.
Fiorella lächelte milde. »Ich hoffe, das sollte kein Vorwurf an mich sein? Aber immerhin hast du nun deine Sprache wiedergefunden!«
»Dann hat er wohl doch geholfen«, sagte Francesca leise.
Fiorella beugte sich vor. »Es ist etwas Schlimmes geschehen, nicht wahr?«, fragte sie vorsichtig. »Ich habe dich noch nie so verstört erlebt. In den vergangenen Stunden habe ich mir solche Vorwürfe gemacht, dich mit so einer gefährlichen Aufgabe zu Baldini geschickt zu haben. Ich war eine selbstsüchtige alte Närrin, bitte verzeih mir!«
»Nein«, wehrte Francesca erschrocken ab. »Was passiert ist, war nicht deine Schuld, Nonna!«
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Großmutter eine halbe Ewigkeit neben ihr auf dem Sofa ausgeharrt hatte, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war. Francesca war es ihr schuldig, alles zu erzählen – auch wenn es ihr schwerfiel, darüber zu sprechen. Doch nachdem sie erst einmal begonnen hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Als hätte ihr Innerstes nur darauf gewartet, die beklemmenden Bilder ihres Erlebnisses mit jemandem teilen zu können. Sie ließ kein Detail aus, auch nicht Baldinis Geständnis kurz vor seinem Tod.
»Er hat Großvater nicht ermordet, es war nur ein bedauerlicher Unfall«, endete sie schließlich.
Gespannt musterte Francesca ihre Großmutter. Was würde sie dazu sagen? Seit Jahrzehnten hatte sie Baldini verdächtigt und nun – schneller als erwartet – war es Francesca gelungen, die wahren Hintergründe von Leonardos Todesnacht herauszufinden. Aber nun war es Fiorella, dieregungslos neben ihr saß und schwieg. Vergebens suchte Francesca so etwas wie Triumph oder Genugtuung in ihren Gesichtszügen.
»Freust du dich denn nicht, dass du endlich die Wahrheit erfahren hast?«
»Gott quält dich, aber er verlässt dich nicht«, murmelte Fiorella kaum hörbar und strich gedankenverloren über das goldene Kreuz, das sie Tag und Nacht um den Hals trug.
»Nonna?«, fragte Francesca besorgt.
Ihre Großmutter zuckte zusammen, als habe sie Francescas Anwesenheit vollkommen vergessen.
»Natürlich freue ich mich darüber, dass du dieses Rätsel für mich gelöst hast«, beteuerte sie und tätschelte Francesca beruhigend die Hand. Sie seufzte auf. »Manchmal ist man davon getrieben, ein Geheimnis aufzudecken und vergisst dabei, dass das Wissen um die Wahrheit nicht glücklich machen kann. Anstatt ein Pflaster aufzulegen, reißt es
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