Die Schattenträumerin
alte Wunden auf. Ich habe nicht bedacht, dass mit der Wahrheit auch die Bilder kommen. Nun sehe ich Leonardos Kampf mit seinem besten Freund vor mir, seinen Sturz, seinen Tod … War es ein Buch wert, zu sterben?«
Ihre blinden Augen richteten sich auf Leonardos Bild auf der Kommode, als habe sie ihm soeben diese Frage gestellt. Sie legte den Kopf zur Seite.
»Sicherlich nicht.«
Francesca schluckte schwer und wusste nicht, was sie sagen sollte. Anscheinend war ihr Gefühl, dass sie die Bilder durch ihre Erzählung mit Nonna zu teilen begonnen hatte, zutreffender gewesen, als sie geahnt hatte.
Fiorella beugte sich vor und tastete nach dem Buch. Wie Venedigs Kanäle schlängelten sich unter der dünnen Haut ihrer Hand breite tiefblaue Adern. Als ihre Fingerspitzen das schwarze Leder berührten, zögerte sie einen Moment.
»Das ist es also. Das Buch, das mir meinen Mann genommen hat.«
»Vielleicht solltest du lieber nicht …«
»Doch, ich sollte!«, fiel Fiorella ihr ins Wort. Sie reckte entschlossen ihr Kinn und legte sich das Buch auf den Schoß. »Wir müssen uns nun an die Lösung des nächsten Rätsels machen! Es liegt viel Arbeit vor uns.«
Irritiert sah Francesca zu ihrer Großmutter. »Das nächste Rätsel?«
»Wir müssen aufklären, warum dein Großvater ausgerechnet dieses Buch gesucht hat und er der Meinung war, es könnte den Fluch aufheben. Das können wir nur, indem wir so viel wie möglich darüber herausfinden«, erklärte Fiorella und setzte eine zuversichtliche Miene auf. »Wenigstens müssen wir dieses Mal nicht einem Menschen die Wahrheit entlocken, sondern nur einem Buch. Keine Sorge, das wird ein Kinderspiel!«
»Wenn du meinst …« Francesca bezweifelte, dass es so einfach werden würde, über dieses Buch etwas in Erfahrung zu bringen. So, wie sie den Antiquar verstanden hatte, handelte es sich um ein sehr altes Buch. Selbst Baldini und ihr Großvater hatten jahrelang vergeblich nach Hinweisen gesucht und weder Fiorella noch Francesca wussten, wie man als »Bücherjäger« am besten vorging.
»Der Umschlag ist aus einem sehr hochwertigen Leder«,stellte Fiorella fest, während sie mit ihren Fingerspitzen das Buch befühlte. »Kaum zu glauben, dass es so lange am Grund eines Kanals lag. Ob man die Schrift überhaupt noch entziffern kann?« Ihre Finger schoben sich unter den Buchdeckel.
Francesca nagte nervös an ihrer Unterlippe. Sie hatte überhaupt kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Baldini hatte sie nicht umsonst vor diesem Buch gewarnt. Es überraschte sie, dass ihre Großmutter, die sonst immer ein untrügliches Gespür für solche Dinge hatte, die unheimliche Ausstrahlung des Necronomicons nicht ebenfalls fühlte.
Wie bei einer Truhe, die dunkle Geheimnisse in sich barg, hob sich der Buchdeckel unter Fiorellas Führung nach oben. Francesca hielt gespannt den Atem an. Das Papier war so schwarz wie die Nacht, goldene Schriftzeichen erhoben sich von den Seiten wie ein wertvoller Schatz und zogen Francescas Blick magisch an.
»Jetzt sag schon«, drängelte Fiorella. »Kann man den Text noch lesen?« Ihre Finger fuhren sanft über das Papier …
Francesca musste einen Aufschrei unterdrücken. Sie schlug ihrer Großmutter das Buch mit solcher Wucht aus der Hand, dass es polternd zu Boden fiel.
Fiorella starrte mit vor Überraschung weit geöffnetem Mund in Richtung ihrer Enkelin.
»Nein, wir … wir dürfen nicht darin lesen«, stammelte Francesca. »Baldini hat mich davor gewarnt, es waren seine letzten Worte: Niemals lesen.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Aufregung zitterte. Mit großen Augen starrte sie auf das Necronomicon.
Alles war wieder normal.
Hatte sie es sich am Ende nur eingebildet? Aber in der Sekunde, als ihre Großmutter den Buchdeckel angehoben hatte, schien es ihr, als käme etwas aus dem Buch heraus. Zuerst war es nur der schwarze Nebel, den sie schon im Antiquariat wahrgenommen hatte, doch dann bildete sich daraus eine Art Hand. Sie wirkte unheimlich real. Obwohl sie nur aus Schwärze und Finsternis bestand, hatte Francesca die Vertiefungen der Fingernägel und den Verlauf der Sehnen und Adern so deutlich gesehen wie noch wenige Minuten zuvor bei Fiorella. Das Schlimmste daran war, dass die schwarze Hand aus dem Buch herauszugreifen schien – direkt nach ihrer Großmutter!
Francesca fuhr sich über die Augen. Sie hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment den Verstand verlieren würde.
»Wir dürfen nicht darin lesen«,
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