Die Schattenträumerin
wackelten und einige Aktenordner fielen krachend zu Boden. Gianna griff wortlos nach Francescas Hand. Ihr Streit in Fiorellas Zimmer, der bisher immer noch zwischen ihnen gestanden hatte, war vergessen. Francesca presste die Augen zusammen.Sie hatte das Gefühl, in einer überdimensionalen Schneekugel zu sitzen, die von einem Riesen durchgeschüttelt wurde. Sie hörte, wie Salvatoris gläserne Tierfiguren vom Fensterbrett fielen und zerbrachen. Draußen schlugen die Glocken der Frari-Kirche, die direkt neben dem Staatsarchiv lag, in wilder, unkontrollierter Tonfolge.
So plötzlich, wie das Erdbeben gekommen war, hörte es wieder auf und Stille kehrte ein. Ganz Venedig schien den Atem anzuhalten.
Vorsichtig krochen die Mädchen unter dem Tisch hervor. Salvatoris Büro sah aus, als hätte es jemand in blinder Wut verwüstet und tanzende Staubflocken erfüllten die Luft.
»Ist es tatsächlich vorbei?«, fragte Gianna hustend.
Francesca erhob sich und einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als würde das nächste Beben beginnen, doch es waren nur ihre Knie, die immer noch zitterten.
»Das war bisher das Schlimmste von allen«, keuchte Salvatori und tupfte sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Kann ich euch einen Moment alleine lassen? Ich gehe schnell durch das Archiv und schaue nach dem Rechten. Hoffentlich ist der Schaden, den das Erdbeben angerichtet hat, nicht allzu groß!«
Er eilte mit besorgter Miene davon. Francesca hob einen Stuhl auf und ließ sich erschöpft daraufsinken. Sie atmete tief durch, wischte sich den Staub vom Gesicht und griff nach der Ahnenliste, die Salvatori kurz vor dem Beben studiert hatte.
Gianna warf ihr einen fassungslosen Blick zu. »Wie kannst du dich jetzt um diese doofe Liste sorgen? Wir wärengerade eben fast unter Hunderten von Akten begraben worden!« Der Schreck steckte ihr anscheinend noch tief in den Gliedern.
Francesca erging es nicht viel besser, aber sie wusste, dass sie sich zusammenreißen und ihre Angst beiseiteschieben musste. »Wir haben nicht die Zeit, hier stundenlang herumzusitzen und auf Salvatoris Rückkehr zu warten«, erklärte sie Gianna. »Ehe es dunkel wird, müssen wir zurück im Palazzo sein. Nur solange es hell ist, sind wir vor Nyarlath sicher. Oder hast du Lust, noch einmal von ihm durch Venedig gejagt zu werden?«
Gianna biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.
Francesca beugte sich über die Liste und ging konzentriert Namen für Namen durch.
»Zwischen 1600 und 1650 finde ich niemanden mit diesen Initialen«, murmelte sie. »Ich gehe mal weiter zurück.«
»Vielleicht liegen wir auch völlig falsch und A. D. M. sind gar keine Initialen«, überlegte Gianna währenddessen. »Es könnte auch eine Abkürzung sein.«
Francesca sah kurz auf. »Ach ja? Und wofür?«
»Vielleicht für …« Sie überlegte einen Moment. » A usgabe d er M edicis. Oder: A chtung, d iabolisch und m egagefährlich.«
Francescas Zeigefinger stoppte abrupt über einem Namen. Sie zog scharf die Luft ein. »Ich glaube, ich hab ihn!«
Aufgeregt stieß Gianna sie zur Seite. »Alessandro Demetrio di Medici. Geboren am 07.01.1589 in Venedig, gestorben am 18.05.1618 in Venedig.«
Francesca runzelte die Stirn. Etwas an diesen Daten kam ihr bekannt vor. Erst vor Kurzem hatte sie irgendwo davon gelesen. Sie stieß einen erstickten Schrei aus.
»Dieses Datum …« Sie deutete auf den Todestag Alessandros. »Das ist der Tag, an dem Rafael Clementonis ›Eine Chronik des Unglücks‹ beginnt. An diesem Morgen soll angeblich der Fluch über Venedig ausgesprochen worden sein.«
»Ein seltsamer Zufall«, gab Gianna zu.
Sie blätterte die Seiten im Aktenschuber durch und pfiff durch die Zähne. »Meine Güte, sieh dir das mal an!«
Sie hielt Francesca ein Blatt unter die Nase, das eine unscharfe Kopie eines alten amtlichen Dokuments zeigte. Es war ein Haftbefehl, der im Namen des Rats der Zehn ausgestellt worden war. Francesca hatte einige Mühe, die Schrift zu entziffern. Der Haftbefehl war am 17.05.1618 erlassen worden, wegen des Verdachts auf Hochverrat und Hexerei. Ausgestellt war er auf Alessandro di Medici und seinen Übersetzer und Sekretär Erasmo Lissandri.
»Weißt du, was das bedeutet?« Sie griff nach Giannas Arm. »Einer der Gehängten, von denen Rafael geschrieben hat, muss Alessandro di Medici gewesen sein!«
Francesca ließ sich zurücksinken und versuchte, die in ihrem Kopf wild umherschwirrenden Gedanken zu ordnen:
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